Elisabeth Himstedt schrieb  bei einem  ungewöhnlichen  Brasilien

besuch  ihr Tagebuch. Unsere Familie war 5 Wochen in Brasilien unterwegs. Drei Wochen lebten wir bei und mit den Ärmsten der Armen in den Favelas.   Wir besuchten Projekte des "Arbeitskreises Pater Beda" ( Kloster Bardel, Bad Bentheim) 

Zwei Wochen verbrachten wir in einer Familie deutscher Auswanderer und lernten den Süden des kontrastreichen Landes kennen. Ist lange her, sagen manche aber vieles ist noch aktuell.Die Arbeit von Beda läuft weiter. Die hier vorgestellten Gruppen haben sich nun zu einer Comunity  zusammengeschlossen. Alles unter Pater-beda.de


Hier der Bericht:


Wohl dem, der in die Ferne zieht, mit off´nem Aug und Sinnen

Wer so des Schöpfers Wunder sieht, der kann viel Glück gewinnen.

 

Vor wenigen Minuten. haben wir uns von Christian und Matthias verabschiedet. Ich bin ganz cool. Schließlich fliegen wir ja nur nach Frankfurt. Im Shuttlebus lerne ich einen kleinen Jungen kennen. Er weiß sehr viel über Flugzeuge. Ich frage:  „Fliegst du auch nach Frankfurt?“

Er schaut mich an und antwortet:  „Nach Hause, nach Singapur“ -  Ok,  kommt dieser kleine Kerl nach Singapur, kommen wir auch nach Brasilien.

Anna-Lena amüsiert sich über das winzige Flugzeug. Immerhin 80 Passagiere. Der Stewart ist süß. Zuerst bereitet er ein Babyfläschchen, dann bekommen wir etwas zu trinken.

Wir tauchen durch die Wolken. Ich träume ein bisschen. So muss es in Grönland aussehen, dahinten ein großer Eisberg. Nur nach Eisbären suche ich vergeblich.

 

Jetzt sitze ich auf dem riesigen Flughafen Frankfurt auf einer Bank, genau  vor der Anzeigentafel. Menschen aus der ganzen Welt  mit den ungewöhnlichsten Gepäckstücken gehen vorbei. Der Flughafen ist riesig. Der Döner ist mir nicht besonders bekommen. Bei der Kontrolle wurde wieder die Mundharmonika untersucht. Draußen ist es stockdunkel. Mir ist warm und müde bin ich auch.

Ein riesiger Vogel, der 221 Passagiere und ein stundenlang schreiendes Baby verschluckt hat,  fliegt uns nach Brasilien.

 

Dienstag,  2. September

Alle haben geschlafen, nur ich nicht.

Auf meiner Uhr ist es 9.00 Uhr. Draußen ist alles dunkel. Hier, wo auch immer wir gerade sind, ist es erst 5.00 Morgens.

10.30 Uhr Wir erleben einen wunderschönen Sonnenaufgang über dem Meer. Dann das Lichtermeer von São Paulo. „Willkommen São Paulo. Guten Morgen. Bon dia“

Einen Augenblick überlegen wir, in die Knie zu gehen, um den Boden zu küssen, so wie der Papst, aber die Menge schiebt uns weiter.  „Ist Euch eigentlich klar, wo wir jetzt gerade sind? Wir sind in Brasilien. Wahnsinn oder?“

Wir stehen in der falschen Schlange. Rio? Nein Recife! Wenn wir unsere Anna- Lena nicht hätten! Der Flughafen macht mir Angst. Kein Wort Deutsch oder wenigstens Englisch.

Alles  wird so schnell gesprochen, dass man nicht einmal den Namen der Stadt heraushört.

Wir müssen zum Gate 5. Auf der Anzeigentafel steht aber 7. Hier sind wir richtig! Und warum stehen jetzt alle auf? Unser Sprachengenie fragt. „Gate 1?- OK!“ , also die Treppe herunter. Hier geht es zu wie auf dem Fischmarkt in Hamburg. Ein Angestellter ruft laut den Flug aus, stopft dann die hingehaltenen Bordkarten in die Jackentasche.  Draußen stehen mehrere Busse. Wir steigen einfach mal ein. Es geht quer über den Flugplatz in den Cargobereich.  Ob wir hier richtig sind?  Ich habe meine Zweifel.

 Geschafft, wir sind im richtigen Flugzeug, unsere Koffer hoffentlich auch. Auf meiner Uhr ist es jetzt 16.00 Uhr. Vor 24 Stunden sind wir zu Hause aufgebrochen. Vor uns liegt eine Strecke von jetzt noch 2143 km,  unser letzter Flug für heute.

Flughafen Recife

Wir sind angekommen, aber so richtig. Die Tür vom Flughafen ging auf und auf einem großen Schild war zu lesen „Amigos Hans Jürgen“. Eine kleine Frau und ein bärtiger Mann umarmen und küssen uns. Wie alte Freunde.  Eine junge Frau kommt auf uns zu und wir übergeben zwei Pakete mit Kinderkleidung und Geld. Aus der Tiefgarage heraus, erwartet uns eine Großstadt. Riesige Wohnblocks. 3o Stockwerke hoch, grau, hässlich. Wir fahren ein Stück an der Strandstraße entlang. Palmen,  Sandstrand und  Strandbars.

 

An einer Straßenkreuzung müssen wir halten. Zwischen den Autos laufen Kinder. Sechs bis sieben Jahre alt. Sie putzen die Scheiben und bekommen ein wenig Geld dafür. Die Straßen werden enger, das Pflaster schlechter. Wäsche hängt an der Straße. Die Häuser wirken immer zerbrechlicher. Unser Fahrer scheint das alles zu kennen. Zielstrebig steuert er in eine Straße, in die ich  freiwillig wohl nie gegangen wäre. Schon hält unser Auto und es bleibt uns gar keine Zeit, um uns irgendwelche Gedanken zu machen. Eine freundliche Frau umarmt uns. Mir wird ein kleines Mädchen  in den Arm gegeben. Es strahlt mich an. Portugiesische Wörter prasseln auf uns ein. Zum Glück gibt es Simon. Wir kennen ihn schon aus Deutschland. Er wird uns beim Übersetzen helfen

Man nimmt uns unser Gepäck ab und bringt uns in den 1. Stock. Hier gibt es einen kleinen Aufenthaltsraum mit einer kleinen Kapelle. Von diesem Raum gehen mehrere Türen ab. Hier 

wird Anna Lena schlafen. Wir eine Tür weiter. Der Raum ist klein und sehr, sehr einfach.

Wir sollen zum Mittagessen kommen. Vorher wollen wir aber die Kinder begrüßen, und gehen in den Essensraum. 100 Kinder sind es heute. Wir werden vorgestellt und jeder zur Begrüßung beklatscht. Ich verschenke meine erste Maus, das kleine Mädchen bekommt sie. Draußen an einem Tisch wird gegessen. Die drei  Schwestern -  Aurieta, Graça, Denise -  und Simon, die Köchin  und wir. Es gibt Reis, Süßkartoffeln, Gemüse Bohnen und  zum Nachtisch Obstsalat.

Alles schmeckt sehr lecker. Wir fühlen uns so richtig wohl. Dank Simon klappt es auch so einigermaßen mit der Unterhaltung.

In der Hängematte, die ich hiermit zu meinem Lieblingsplatz erkläre, versuche ich mich ein wenig auszuruhen. Die Trommelgruppe aus der Nachmittagsbetreuung und die Hunde auf der Straße lassen das aber nicht zu.  Beim Kaffee unterhalten wir uns mit einer jungen Frau, Vanessa. Sie war in Osnabrück auf dem Katholikentag und spricht ein bisschen Deutsch. Anna- Lena spricht Spanisch und wenn wir dann noch Hände und Füße dazu nehmen, geht es ganz gut.  Wir erfahren unter anderem, dass sie Sambalehrerin werden will und 19  Jahre alt ist.

Wir fragen, ob sie mit uns an den Strand gehen will. Vanessa steht auf  und zeigt uns ein Foto ihrer zweijährigen Tochter. Sie muss nach Hause. Ob es auch einen Vater gibt, wollen wir wissen.

Die junge Frau faltet die Hände und zeigt nach oben. Im Himmel.

 


Wir gehen mit Schwester Graça und 4 Mädchen spazieren. Auf der Straße  stehen Pfützen, das ist gut für die Mücken, denn so können sie sich schneller vermehren. Aber so staubt es nicht so, wenn die Motorradfahrer durch die Schlaglöcher rasen. An einem schiefen Strommast hängen wohl  50 Leitungen. Die RWE würde die Menschen sofort wegen Lebensgefahr  evakuieren. Die Häuser sehen baufällig aus. Langsam wird uns klar, dass die vier munteren Mädchen, inzwischen sind  es ein paar mehr geworden, unserer Sicherheit dienen. Wir sind eben Weiße. Langsam fangen wir an, uns kennen zu lernen.  Sie fragen, wir antworten und umgekehrt. Schon bald laufen wir Hand in Hand in die riesigen Wellen des Atlantischen Ozeans, und rennen ihnen wieder davon. Hier darf man nicht baden. Es gibt zu viele Haie. Wir kommen an einen Meeresbusen, der auch als Hafen genutzt wird. Das Wasser ist vergiftet und es stinkt. Da es anfängt zu regnen, stellen wir uns bei einer Polizeiwache unter. Christane hat ein Gummiband dabei und wir spielen Gummitwist. Ja, ich auch! Wusste gar nicht, dass ich das noch kann. Die Mädchen klatschen  und lachen. Langsam wird es dunkel. Die Mädchen haben von irgendwo her ein paar Münzen. Sie laufen zu einem Straßenstand und kaufen für uns Popcorn. Wir sind so überrascht, dass wir gar nicht reagieren können. Diese armen Mädchen ohne Familie und Wohnsitz beschenken uns.

Hier geht jeden Morgen die Sonne um 6.OO Uhr auf und um 18 Uhr unter, Sommer wie Winter. Wir möchten lieber nach Hause. Die drei Schüsse, die wir hören, sind keine. Es sind nur Fehlzündungen von einem Auto. Schüsse sind hier nichts Ungewöhnliches. Auch der Mann von Vanessa ist erschossen worden. Wir lernen noch die Oma eines unserer Mädchen kennen, dann sind wir wieder zu Hause. Dank meines Wollvorrats  machen wir Fadenspiele. Die Mädchen bleiben zum Essen und räumen die Küche auf. Leise erzählt uns Schwester  Aurieta, dass keines der Mädchen Vater und Mutter hat. Sie schlafen bei einer Tante oder mal hier mal da,  manchmal auch auf der Straße.

Aurieta sagt, sie seien froh, dass wir uns mit ihnen beschäftigen und ob wir nicht bleiben wollten. Das Nachbarhaus sei noch frei.

Das war unser erster Tag in Recife. So viel Spaß und so viel gelacht haben wir schon lange nicht mehr.

Mittwoch 3. September

Irgendwie sind die Tage hier viel länger als Zuhause. Soviel haben wir heute schon erlebt. Nach dem Frühstück-es gibt leckere Brötchen mit gesalzener Butter, Papaya und Honigmelone, sagt  Simon: „Draußen warten die Kleinen, ihr sollt mit ihnen spielen!“- WIR?  – Darauf sind wir gar nicht vorbereitet. Eine Menge Spiel rattere ich im Kopf herunter. Sie können uns doch nicht verstehen.

Ja, Wattepusten. Das ist die Spontanidee des Tages. Aus dem Füllmaterial meines Kissens- das für Mäuse gedacht war- schneide ich 10 Kreise aus und legte sie auf den Tisch. João – Hans-Jürgen kann hier keiner aussprechen- erklärt den Kindern, dass sie die Hände auf den Rücken legen müssen, und los geht die Pusterei. Einige können nur noch lachen und vergessen das Pusten. Nach einer Viertelstunde sind wir und die Kinder ko. Und brav verschwinden sie wieder im Kindergarten.

Inzwischen ist José, unser Fahrer, auch schon da und nach einigen Telefonaten fahren wir in das Franziskanerkoster von Recife.  Pater Johannes Sannig steigt zu uns ins Auto. Er ist Deutscher und kommt aus der Nähe von Osnabrück.  So einen Pater habe ich mir ganz anders vorgestellt. Er trägt ein braun-grünes T-Shirt, Hosenträger und ist unrasiert. Er spricht Deutsch und soll uns alles erklären. Seine erste Frage: „Na, seid ihr auch schon überfallen worden? Recife ist die gewalttätigste Stadt im Nordosten und ihr solltet euch nicht allein auf die Straße trauen. Schießereien sind in diesem Viertel an der Tagesordnung. Die Menschen hier bei mir trauen sich noch nicht einmal mehr in die Kirche.“

Das klingt ja sehr einladend. Wir fahren auf die Flussinsel „Ilha de Deus“. Am Ufer lassen wir unseren Wagen stehen und  gehen über einen auf Stelzen gebauten Steg, sehr holprig und an vielen Stellen fehlen Bretter. Rechts und links eine braune Brühe und schwarzer Schlamm. Es erinnert mich sehr an das Wattenmeer. Wir erreichen die Insel, die früher „Insel ohne Gott“ hieß und Banditen  als Unterschlupf diente. Vor 10 Jahren haben die Frauen, die auf der Insel lebten zusammen mit Beda die Führung übernommen und umgetauft. „Insel Gottes“

Neben dem Muschelweg auf dem wir bei sengender Hitze vorwärts gehen, läuft ein schmales stinkendes Rinnsal.  Die Hütten sehen erbärmlich aus. Am Rand der Insel stehen sie auf hohen Stelzen, damit bei Flut nicht überschwemmt werden.  Bei Hochwasser, so erklärt Pater Sannig, stehen alle Häuser hier auf der Insel im Wasser. Durch eine schmale Tür betreten wir das Projekt „Saber viver“-„Leben wissen/ können“. Wir werden schon erwartet und mit Umarmung und Küssen begrüßt. Wir lernen die Projektleiterin  Nalvinha kennen, die uns alles zeigen wird.  Es gibt verschiedene Klassen. In einem Raum sitzen  30 Kinder und basteln an einer Collage. Es soll eine Raupe werden, die aus kleinen Kügelchen zusammengesetzt wird.  Ich setze mich zu einem kleinen Jungen, der nur dicke Kugeln kann und helfe. Erst guckt er ganz verdutzt, aber fasst dann Zutrauen. Wir verstehen uns gut.

Während Hans-Jürgen und Anna-Lena sich die Bibliothek  erklären lassen setze ich mich- der Raum ist sehr eng- mit drei Kindern auf den Hof und mit den Sandalen  klopfen wir die Erde fest. Ich zeichne auf den Boden eine Katze. „Gato“ . Schnell hocken  einige Kinder auf dem Boden und zeichnen ebenfalls  und erklären ihre Zeichnungen auf Portugiesisch. So schnell kann man eine Sprache lernen. 

Auch die kleine Bäckerei des Projektes können wir besichtigen. Die Maschinen sind alt und der weiße Lebensmittelstrich  ist inzwischen bräunlich verfärbt.  In Deutschland würde das Ordnungsamt diesen Laden sofort schließen.  Pater Sannig rät uns, das Brot nicht zu probieren. Aber man ist stolz auf diese Bäckerei. Sie versorgt das Projekt mit Brot und Brötchen und jedes Kind nimmt  nach der Schule noch  10 Brötchen für die Familie mit. Damit sind die Mahlzeiten den Familien weitgehend gesichert, denn der Fisch- und Muschelfang bringt nicht viel ein. Weiter geht es in eine kleine Muschelwerkstatt. Hier werden die Muschelschalen verarbeitetet, die beim Auspulen des Muschelfleisches durch die Fischer  übrigbleiben. In mühsamer Kleinarbeit werden die Muscheln gelocht und zu Haarschmuck und Kugeln verarbeitet.  Wir kaufen eine solche Kugel und ein Zopfband für Anna-Lena.  Die Mädchen arbeitensehr konzentriert. Die Werkstatt ist eine Einnahmequelle des Projektes.

Jetzt besuchen wir den Kindergarten. Hier erleben wir etwas ganz Witziges:  Die Kleinen haben nur Augen für meinen Mann. Er bückt sich zu ihnen herunter und alle wollen seinen Bart streicheln oder einmal daran ziehen. Aufgeregt einige der Kinder: „ Papa Noel“. Was uns zunächst gar nicht auffällt ist, dass es im ganzen Kindergarten kein Spielzeug gibt. Wirklich gar nichts.  Hätte ich doch einige Puzzles aus der Holzwerkstatt mitgebracht. Die Leiterin bedauert das fehlende Spielzeug und sie hoffe,  in der nächsten Zeit  einige Reais von der Prefectura zu bekommen. Bis dahin spielen die Kinder Kreisspiele , singen und sind draußen auf dem Gelände. Wichtig ist den Verantwortlichen, dass die Kinder jeden Tag gebadet werden und so die tägliche Hygiene lernen. Draußen spielen die größeren Jungen Fußball. Stolz tragen sie ihre Trikots mit dem Aufdruck „Frei Beda“.  Alle wollen zeigen was in ihnen steckt und die großen Vorbilder des brasilianischen Fußballs  leuchten in ihren Augen. Zurzeit versucht man, den Fußballpatz wieder vollständig bespielbar zu machen. In der Regenzeit sind große Teile des  Bodens abgeschwemmt worden, als das Wasser die Insel überschwemmte. Gerade für die Jungen ist Fußball als Ausgleich ziemlich wichtig, um Aggressionen abzubauen, denn Aggression führt zu Gewalt und dagegen soll ja angesteuert werden.

Zurück in der Schule: Eine große Aufführung ist für uns vorbereitet worden.  Zunächst ein moderner Tanz. Wir sitzen und schauen gebannt auf den Ausdruck der Tänzer. Anna-Lena ist ganz begeistert und filmt was das Zeug hält. Besonders überrascht sind wir, dass sich auch die Jungen  schwungvoll bewegen. Das kennen wir aus Deutschland  ja kaum. Die Tänzer strahlen und geben ihr Bestes. Der Tanz ist schnell und bald stehen den Akteuren die Schweißperlen auf der Stirn. Dann wird es etwas ruhiger. Ein Volkstanz: Er erzählt von den Fischern und den Gefahren des Meeres. Sie sollen sich in Acht nehmen vor den Haien, die zahlreich an der Küste Recifes vorkommen und vor denen die Badenden gewarnt werden. 

Der Höhepunkt an diesem Morgen ist ein kleines Theaterstück über das Leben auf der Insel.  Eine Mutter weiß nicht, wie sie ihre Kinder ernähren soll. Das Geld und das Brot sind knapp und die Kinder weinen und quengeln. Der Vermieter kommt und will unbedingt die Miete kassieren. Das Geld ist nicht da. Die Frau vertröstet den Mann. Woher soll sie das Geld nehmen? Der Vater kommt heim. Betrunken. Wieder hat er keine Arbeit gefunden. Mutter und Kinder schimpfen. Da schreit der Vater seine Kinder an und droht ihnen. Die Kinder lachen.  Eine Situation aus den täglichen Erfahrungen der Kinder. So und so ähnlich sehen die Lebensumstände aus. Daran arbeiten die Projekte mit den Kindern und wenn möglich auch mit den Eltern. Den Abschluss bietet ein Hoffnungslied. „Wenn wir zusammenstehen …“

Hier in Recife gibt es sehr, sehr  viele Kinder. Fast jede junge Frau ist schwanger. Häufig scheint es, als wenn die  Männer die Kinder nur machen und dann verschwinden. Sie werden mit den Situationen der Arbeitslosigkeit nicht fertig. Der Ausweg ist dann der Alkohol oder das Weglaufen. Die Armen sind die Frauen. Es fehlt an Aufklärung und Verhütungsmitteln, denn sie setzen voraus, dass sie regelmäßig genommen werden. Und das ist  bei den zum Teil chaotischen Lebensverhältnissen kaum möglich.

Wir sind bei zwei Familien in ihren Hütten eingeladen.  Was wir zu sehen bekommen ist unvorstellbar. Auf engstem Raum leben drei Generationen: Oma, Mutter und Kinder. Und oft haben die Enkel schon wieder ein Kind.  Die Hütten sind  ausgestattet mit Fernseher, Kühlschrank, einem Herd und einer Sitzgelegenheit.   Matratzen und Betten   sind nicht für jede Person vorhanden. Die Kinder schlafen oft zu mehreren auf einer Schlafstelle. Die Wände, wenn sie gemauert sind, werden nicht verputzt.

Das zweite Haus besteht aus  Brettern und Balken. Wir möchten wissen, wie die Frau ihre Wäsche wäscht. Draußen vor dem Haus ist ein Wasseranschluss. Dort in einer Schüssel wird gewaschen und auch geduscht. Wie auch immer.  Wir hatten ja damit gerechnet Armut zu sehen, aber was wir hier erlebten  übertrifft  unsere Vorstellungen.                                                                                                                         Pater Sannig und die Projektleiterin kommen noch mit zu Schwester  Aurieta.  Alle sind froh, sich hin und wieder zu treffen und über ihre Probleme und Sorgen zu reden.

Knappe 3o Min. Mittagsruhe haben wir, da werden wir schon wieder von einem anderen Auto abgeholt. Till, ein junger Mann aus Mettingen, ist unser Fahrer. Er leistet hier im Straßenkinderprojekt „Comunidade dos Pequenos Prophetas“ (Gemeinschaft der kleinen Propheten) seinen Zivildienst ab. Das Auto hatte eigentlich alles. Alles, was man hier so braucht. Eine Hupe, 4 Räder, eine Bremse. Nur keine Stoßdämpfer. In diesem Projekt geht es um Kinder, die gar keine soziale Bindung haben. Also keine Verwandten und die wirklich einfach nur auf der Straße leben.


Hier lernen sie ein bisschen Rechnen und das  ABC, damit sie wenigstens ihren Namen schreiben können. Hier können sie sich und ihre Wäsche waschen. Es gibt feste Regeln. Wer sich nicht daran hält, fliegt raus. Ein Bereich im Haus ist machofreie  Zone. Hier darf kein Mann rein.  Wir dürfen. Die jungen Mädchen lernen gerade Hygiene und sprechen über Sex. Die Collagen in diesem Raum sprechen Bände.  In einem anderen Raum werkelt gerade eine Gruppe mit Pappmache. Sie basteln Schmuck, Büsten, Sonnen und viele andere Dinge und bemalen sie fantasievoll. Diese Dinge werden auf einem großen Markt verkauft. Der Gewinn geht zurück ins Projekt für neues Material und für neue Ideen. Bei diesen kreativen Arbeiten können, so denke ich mir, die Jugendlichen einfach mal abschalten und ihre täglichen Probleme  für einige Stunden vergessen.  In einem kleinen Raum, ohne Fenster lernen wir zwei Psychologinnen kennen.  Hier, in einer sehr freundlichen Umgebung können die Kinder  über ihre Ängste und Probleme  reden. Sicher muss auch einiges aufgearbeitet werden, was sie auf der Straße erlebt haben.  Viele Kinder schnüffeln an Klebstoff. Auch eine neue Sorte Creck ist im Umlauf. Nach zwei Mal ist man süchtig und garantiert bald tot.  Die Kinder hier, sind sehr anhänglich. Till sagt: passt auf eure Sachen auf.  In einer Ecke liegen einige Jugendliche und schlafen. Hier brauchen sie keine Angst zu haben. Niemand wird sie hier verscheuchen oder erschießen.

Mit einem Bulli, dem vieles fehlt, wir dürfen auf keinen Fall in eine Polizeikontrolle kommen, fahren wir nach Hause. Unterwegs zeigt uns Till eine alte Fabrik und einige Lagerschuppen: „Hier leben unsere Kids“.  Ich will endlich schreiben, soviel schwirrt in meinem Kopf herum, aber es gibt schon wieder Kaffee und dann müssen wir wieder los. Schw. Graça will mit uns und den Kindern  spazieren gehen. Sie wollen uns unbedingt zeigen, wo und wie sie wohnen. Wir betreten an diesem Abend viele Wohnungen. Sie sind jedesmal voll, wenn wir drin sind. So klein sind sie. Manchmal wohnen in so einer Wohnung 8 Menschen. Der kleine Jesus hat 16 Geschwister. Die Kinder hängen wir Kletten an uns. Ich hatte ihnen Fäden gegeben und einige Fadenspiele gezeigt. Das scheint wie eine Sucht ausgebrochen zu sein. Mehrfach werde ich an diesem Abend von einem der Kinder von der Straße gezogen. Ich höre und sehe die Autos gar nicht so schnell. Wir rechnen die Quadratmeterzahl der Wohnungen mal um. So 6 Familien könnten in unserem Haus in Deutschland bequem leben. Man bedenke, immer dabei die große Kinderzahl. Schlafgelegenheiten und Kinderzahl passen hier auch nicht zusammen. So ungefähr3 bis 4 Kinder schlafen in einem Bett. Überall sind wir herzlich willkommen. Eine Mutter hat in einem Kurs Nähen gelernt. Nun fertigt sie wunderschöne Babydecken an und verkauft oder verleiht sie. Mit dem Erlös bringt sie sich selbst, ihre Kinder und ihren bettlägerigen  Mann durch. Manche Wohnungen liegen im ersten Stock. Wir klettern eine ungesicherte offene Treppe hinauf und besuchen eine Oma. Vor den Fenstern ist kein Glas und die Wände sind auch hier, wie überall, nicht verputzt. Die Oma freut sich und ihre Enkelin zeigt uns alles ganz genau.  Um 18 Uhr wird es plötzlich dunkel und uns zieht es nach heim. Dort fallen Anna-Lena Knotenmutter und einige Klatschspiele ein. Die Kinder begreifen schnell und wir haben viel Spaß. Heute wollen sie überhaupt nicht nach Hause. Ich bin sehr müde. In Deutschland ist es jetzt 1.00 Uhr. Hier 20.00 Uhr. Irgendwie sind die Tage hier länger.

 

 

Donnerstag,  4. September

Heute muss Donnerstag sein. Ich war wieder sehr früh wach. Die ganze Nacht hat es nur so geschüttet. Der  Himmel ist grau. Ich habe erst einmal geduscht und Haare gewaschen, eiskalt.

Die Fischer in unserer Nachbarschaft scheinen heute Nacht draußen  gewesen zu sein. Sie sitzen auf der Straße und fädeln die kleinen Fische auf dünnen Schnüren auf, um sie später in der Sonne zu trocknen.

Als wir zum Frühstück runter gehen, erfahren wir von zwei Toten. Ein junger Mann, der hier in

Tuma de Flau groß geworden ist und am Strand Eis verkauft  hatte, ist erschlagen worden.

Auch eine ältere Frau aus unserer Straße ist eines „nicht natürlichen Todes“ gestorben.

Ob wir mit zur Beerdigung wollen, fragt Aurieta. Ich habe Angst, dass ich zu viel weinen muss.

Da kommt Till und wir lernen unsere Einrichtung, in der wir ja schon 3 Tage wohnen, erst mal richtig kennen.

Im Vorraum findet eine Andacht statt. Alle Kinder sitzen auf den Fliesen. Es wird gesungen und aus der Bibel vorgelesen. Fürbitten werden gesprochen. „Ihr seid nicht allein“, sagt Schwester Graça. „Jesus liebt euch“. Dann kommt eine Tanzgruppe in bunten wehenden Gewändern, die zu einem Gospel tanzen. Alle singen mit. Es ist eine fröhliche Stimmung.

Alle beten das Vater unser und die Andacht ist vorbei.

Zuerst besuchen wir den Kindergarten. 14 kleine Mäuse an Plastiktischen und Plastikstühlen.


Heute Morgen wird die brasilianische Fahne gemalt, denn es ist bald Staatfeiertag. Die Kindergärtnerin erklärt uns, dass die Kinder damit Formen, Farben und ihre Flagge richtig kennen lernen.

Der Nebenraum ist ein trauriger Gedenkraum. An der Wand hängen viele schwarze Kreuze mit den  Namen der  Kinder aus  Tuma do Flau, die verstorben sind. Gewalt und Armut, mangelnde Krankenversorgung   sind der Grund. Traurig erzählt Aurieta: „Das sind aber nicht alle Kreuze. Einige müssen wir noch aufhängen“.

Im nächsten Raum ist ein Computergrundkurs. Hier lernen 7-14 jährige Kinder  die Bedienung des Computers und die Grundzüge von Word und Exel. Zwei Lehrerinnen, ehemalige Projektkinder, unterrichten hier vormittags und nachmittags je eine Gruppe.

Die Computer sind gestiftet: aus Deutschland.

Im Vorraum sitzt eine Gruppe Jungen und Mädchen auf den Fliesen. Sie lernen etwas über die Entstehung des Capoeira. Kurz erklingt ein Musikstück. Wir sind voller  Erwartung. Aber dann kommt alles ganz anders: Jetzt sollen wir die Musik machen. Anna –Lena  bekommt eine große runde trockene Frucht  und einen Stock mit einem langen Band, ein Berimbao. Hans-Jürgen ein Tamburin  und ich eine Trommel. Einige Kinder helfen uns  den richtigen Rhythmus zu finden. Wir drei machen tolle Musik.  Begeistert klatschen alle mit.  Dann sind wir erlöst: alle bis auf Anna, denn die muss nun  mittanzen. Sie hatte auf dem Katholikentag schon an einem Kurs teilgenommen. Als der Tanz schneller und schneller wird, die Figuren komplizierter muss sie passen und stolz präsentieren die Jungen und Mädchen ihr Können. Aber so sind sie, die jungen Brasilianer und Brasilianerinnen. Sie werden mit Musik im Blut geboren. Das erleben wir in den Tagen immer wieder.

Nun geht es in den zweiten Stock,   in einen modernen Computerraum. Hier kann man eine  Qualifikation in Informatik erwerben. 40 Jugendliche werden  hier auf den Beruf vorbereitet. Fachkräfte werden in Brasilien dringend gesucht. So ist es nicht schwer einen Job zu bekommen. Der Kurs läuft über 320Stunden und ist sehr vielseitig.  Er wird von der Stadtverwaltung finanziert.

Ich verstehe, dass es  in  diesem Projekt um Kindergartenkinder geht, die bis zum Beruf  begleitet werden.

Auch die Jugendlichen bekommen etwas zu essen. Heute gibt es eine riesige Torte. Es ist ein ganz besonderer Tag. Die jungen Leute haben es geschafft und bekommen ihr Diplom. 

Von 40 Teilnehmern haben immerhin 30 durchgehalten. Wir freuen uns mit ihnen und dürfen die Zeugnisse übergeben. Es folgen Dankesreden. Ein Schüler bedankt sich bei Gott. Ohne ihn wäre er nicht hier. Ein anderer bedankt sich bei Schwester Aurieta und der Organisation.

„Jetzt habe ich eine Zukunft“, sagt er.  Eine Kerze brennt auf dem Tisch. Mit Gitarrenbegleitung wird ein Dankeslied gesungen.

Wir werden schon im großen Saal erwartet. Hier  sehen wir in bunten Blumenkleidern einen  Tanz, der von einem Vogel erzählt. Beim nächsten tragen die Kinder kleine bunte Schirmchen. Er ist sehr, sehr schnell – der schnellste Tanz Brasiliens -  und mir wird schon beim Zuschauen schwindelig.  Die Tanzgruppen werden manchmal zu  Veranstaltungen eingeladen und verdienen so etwas Geld.





In einem kleinen Nebenraum ist gerade Religionsunterricht. Eine Gruppe kommt am Vormittag, eine am Nachmittag. Es sind so viele Kinder. Hier werden die Kinder auch auf die Erstkommunion vorbereitet.  Da in dieser Woche auch die Woche der Bibel ist, haben die Schüler ein Bücherregal mit den Büchern der Bibel gebaut.

Am 7. Sept. ist der Unabhängigkeitstag,  Kurzfristig hat man den Nationalfeiertag für uns um einige Tage vorverlegt. Auf der Straße stellt  sich  ein Umzug auf. Eine große Trommelgruppe macht Musik und es wird getanzt.  Zwei kleine Mädchen halten ein Schild hoch  „Bem Vindos,  Hans-Jürgen Himstedt  a Turma do Flau“-„Herzlich willkommen, Hans Jürgen Himstedt“.  Es ist einfach fantastisch. Ein Maracatukönig tritt auf,  gefolgt von seiner Königin und dann kommt noch eine anmutige, süße Prinzessin.

Die Stimmung ist einfach toll. Wir lachen und tanzen mit. Hier kennt uns ja zum

Glück keiner, denken wir. Auf einmal bekommen wir die Kronen aufgesetzt und ein Zepter in die Hand. Das sieht sehr albern aus und alle müssen lachen. Während die Brasilianer perfekt den Rhythmus der Trommel mit ihrem ganzen Körper aufnehmen, scheinen die Bewegungen von  Hans-Jürgen und mir ein wenig hölzern. Da müssen wir noch viel üben. Ob wir es dann schaffen, erscheint mir fraglich.

Dann wird es traurig.  Generalprobe für eine Demonstration am Sonntag in Recife. Neben der großen Demonstration der Stadtverwaltung, die sich darstellen möchte und die Macht des Staates demonstriert, haben Gruppen aus den Favelas einen Demonstrationszug geplant, um auf die Not der Armen aufmerksam zu machen: Der Schrei der Armen.  

Vorne weg, die Fahne Brasiliens   Es gibt  2 Gruppen. Die Kinder auf der einen Seite stehen für das Leben. Sie tragen Stirnbänder mit  den Worten  Frieden, Gemeinschaft, Gleichberechtigung, Liebe, Familie.

Die Kinder auf der anderen Seite tragen  schwarze Kreuze mit den Worten Tod. Mord, Krankheit, Angst. Ungerechtigkeit . Das Leben der Armen. Aus einem Lautsprecher hören wir Aufforderungen an die Regierung: nach Zukunft, Bildung, Gerechtigkeit.

Jetzt legt die blauglänzende Trommelgruppe  los. Ich weiß, ich wiederhole mich,  aber es war einfach fantastisch, und eigentlich fehlen mir die Worte um die Stimmung, die Farben und die Musik richtig zu beschreiben. 

Später in Salvador erfahren wir, dass die Demonstration der Armen am Unabhängigkeitstag verboten wurde. Das erste Mal seit vielen Jahren. Die Kinder der Gruppe von Aurieta wurden in eine Nabenstraße abgedrängt. Die Polizei riegelte die Straße ab. Die Situation begann zu eskalieren.  Die Polizei ging auf die Kinder zu. Es gabt die ersten Drohungen und Schläge.  Wegen der Kinder  hielten sich die Verantwortlichen der Gruppen zurück.  Aber Aurieta war so voll von dem,  was sie allen sagen möchte, dass sie mit der Brasilienfahne in der Hand auf die Polizisten zuging und mit ihnen schimpfte. Man stelle sich vor:  Eine 1,60 m kleine, magere Frau gegen bewaffnete Polizisten.  Es gelangt ihr, zwischen den Beinen der Polizei durch zu schlüpfen.  Die Barrikade war durchbrochen. In der allgemeinen Verwirrung gingen die Kinder hinterher.  Es ging alles gut. Am  Ende tanzten alle auf der Straße. Die Presse und die internationalen Gäste aber sahen nur die Vorstellung der Politik.  Auf die Armen am Rande richtete sich keine Kamera.  Aber so wie ich Aurieta kennen gelernt habe,  wird sie im nächsten Jahr wieder eine Demo vorbereiten, denn der Schrei der Armen gegen die Ungerechtigkeit darf nicht verhallen…

Wir gehen in den Essensraum. Heute ist er restlos überfüllt. Es gibt Reis, Fleisch, klein geschnittene Tomaten und zum Nachtisch Bananen. Die Köchin kocht das Essen, aber die

Kinder helfen wo sie können. Auch die Mütter der Kinder helfen abwechselnd. Alles ist sehr sauber. Teller und Becher sind aus buntem Plastik. Ich stelle  so für mich fest: Die Kinder, die Kontakt zu Turma do Flau haben, brauchen nicht zu hungern. Zweimal am Tag gibt es eine Mahlzeit. Ein kleines Frühstück und das Mittagessen für die erste Gruppe, einen Nachmittagssnack und Abendessen für die zweite. . Die Stadtverwaltung gibt einen kleinen monatlichen Zuschuss. Das gibt es aber erst, seit diese Regierung im Amt ist. Alle hoffen, dass im  Oktober dieser Bürgermeister und die Abgeordneten wieder gewählt werden.  In Bardel – nach unserem Aufenthalt  erfahren wir: „Aurieta hat gewonnen“. Ihr Wunschkandidat ist gewählt worden.  Es folgt ein Tischgebet und dann ein Lied.  Wir bedanken uns bei den Kindern. Jetzt geht es aber los. Es wird zwar laut, aber es geht sehr gesittet zu.  Man hilft sich gegenseitig: Keiner versucht den anderen zu übervorteilen.

Auch für uns gibt es Mittagessen. Vorher wird gesungen „Wo zwei oder drei…“ auf Portugiesisch. Wir singen in Deutsch mit. Ich verschenke die erste mitgebrachte Schürze.

Die Köchin Maria ist stolz. Sie dreht sich herum und zeigt allen ihr „Presente“.

Wir  gehen  nach oben und hoffen auf ein Mittagsschläfchen. Aber da wird nichts draus.

Unser Fahrer wartet schon. Wir müssen Busfahrkarten kaufen. Erst brauchen wir Geld und fahren zur Bank. Unser Fahrer kann nicht vor der Bank halten. Wir sollen bloß nicht aus der Bank kommen und auf dem Bürgersteig auf ihn warten. Das sei zu gefährlich, warnt er uns.

Doch alles ist gut gegangen.

Wieder im Projekt heißt es,  wir sollen  mitfahren, um Suppe  verteilen.

Vor 3 Jahren hat man 800 Familien hier von  unserem Zipfel Land einfach umgesiedelt. Man hat die Menschen einfach in bunte,  aus sehr schlechtem Baumaterial gebaute Wohnblocks gesteckt. Gut und schön. Aus den Favelas heraus. Aber es sind alles Fischerfamilien. Wie sollen die Fischer zum Meer kommen?  Wir sind ca. 30 Min mit dem Auto gefahren. Wie sollen sie  die Buskosten bezahlen?  In Brasilia Teimosa  hatten sie einfach die Strommasten angezapft und das Wasser aus der Wasserleitung von der Straße entnommen. Hier müssen sie Wasser und Strom bezahlen. Also eine ziemlich dusselige Idee der Regierung.

Es ist ein richtiges Getto. Überall Müll. Die Häuser sind restlos verwohnt. Ich kann nicht glauben, dass sie erst 3 Jahre alt sind.


Schwester Graça stellt einen Rekorder und einen Lautsprecher auf. Schnell versammeln sich viele Kinder und Mütter. Zuerst wird gesungen und wir werden vorgestellt. Die Kinder sitzen in einer Reihe und warten geduldig bis sie ihren Teller mit Suppe bekommen. Keiner schiebt und drängelt, alles ist ruhig obwohl alle großen Hunger haben.  Wir beobachten eine 6jährige, die vor ihrer kleinen Schwester hockt und sie füttert, ehe sie für selbst etwas zu essen holt. Dann gibt es einen Teller Suppe für die Erwachsenen. Den Rest der Suppe dürfen die Frauen mit nach Hause nehmen. So gibt es auch am kommenden Tag ein warmes Essen.


Nun können wir filmen und fotografieren. Ich fühle mich sehr unwohl. Wir schauen zu wie gegessen wird. Mir schnürt es irgendwie den Hals zu. Wir machen einen Spaziergang

Ich würde erst einmal Rasen sähen, einen Spielplatz anlegen und überall Blumen pflanzen, aber hier ist alles nur grau und schmutzig.

Heute Abend sind wir drei  nur noch  müde und wir gehen schon um 2o.00 Uhr schlafen. Wenn das doch die Hunde und die Menschen draußen auf der Straße auch tun würden.

Der Schuss, den wir hören ist ein echter.

Auf meiner deutschen Uhr ist es 1.00 Uhr.

Freitag, 5. September

Wir haben beschlossen einen Tag länger zu bleiben. Es ist einfach zu schön hier. Als wir zum Frühstück herunterkommen, klebt ein ca. 10jähriger, sehr hübscher Junge an Simon und lernt Deutsch. Er darf sich zu uns an den Tisch setzen und Aurieta erzählt: Brian hatte noch vier ältere Brüder. Zwei sind erschossen worden. Einer lebt angeblich irgendwo auf der Straße. Der vierte ist auch verschwunden. Die Mutter trinkt und ist eine „Furie“. Irgendwie ist sie seit einiger Zeit auch weg. Brian lebt ganz allein im Haus. Aurieta sagt zu ihm: „Du hast jetzt seit vier Tagen die gleiche Hose an. Du musst sie waschen.“ Brian verschwindet durch die Hintertür und kommt mit einem Arm voller Wäsche zurück. Er wohnt schließlich genau gegenüber. In der Waschküche fängt er an, auf einem Waschbrett so wie wir es früher hatten, zu waschen. Ich helfe ihm beim Auswringen. Aurieta hat Brian schon viermal aus dem Gefängnis geholt. Die Polizei sperrt ihn immer wieder ein, wenn sie die Straßenkinder von der Straße holt.  

Unser Fahrer kommt und es geht nach Olinda. Das ist ein Touristenort oben auf einem Berg. Von hier haben wir eine wunderschöne Aussicht. Unter uns liegt die alte Stadt mit 22 Kirchen, viel Grün und einem weißen, langen Strand. In der Ferne liegt Recife mit den Hochhäusern. Ein Führer bietet sich an, wir vereinbaren 30 Reais, das sind ca. 12 Euro. Viel zu teuer, wie wir später erfahren. Er zeigt uns einige Kirchen und erklärt auf Englisch. Auf dem Markt werden viele Dinge angeboten. Es ist eine Kunsthandwerkerstadt. Auch soll es hier die schönsten Karnevalsumzüge geben. Es geht steile Straßen hinauf und hinunter. Die Häuser strahlen in allen Farben. In der Sonne leuchten sie. Hier ist es sauber und gepflegt. Überall wird gearbeitet. Am Wochenende findet ein Musikfestival statt. Nur gut, dass unser Fahrer vorgefahren ist, denn wir sind bis unten in die Stadt gelaufen. Noch ein paar Fotos und es geht weiter.

Zuerst sehe ich die Blumenständer mit großen, runden Gebinden. Dann das Friedhofstor. Ein riesiger Friedhof liegt dahinter. Hans-Jürgen, Anna und Simon steigen aus. Mich wollen sie nicht mitnehmen. Nun bleiben der Fahrer und ich zurück. Wir gehen in den Park und setzen uns auf eine Bank im Schatten. Ich kenne ihn kaum, er war immer pünktlich und hat uns überall hingebracht. Aber er spricht nur Portugiesisch. Mit Hilfe eines kleinen Zettels und einem Kugelschreiber lernen wir uns kennen. Sein Name ist José, er ist 49 Jahre alt und hat 4 Kinder. Wir haben uns über alles Mögliche unterhalten. José ist sozusagen der Vaterersatz für unsere Kinder im Projekt. Er kennt alle mit Namen und geht sehr lieb mit ihnen um. Nach einer Stunde kommen die vier zurück. Schwester Aurieta haben sie dort getroffen. Den ganzen Tag wird beerdigt, erzählen sie. Der Tod gehört hier einfach zum Leben.

Eigentlich  haben wir heute schon genug erlebt. Gerne würde ich mich irgendwo hinsetzen und schreiben, aber es geht schon wieder weiter.

Wir fahren in ein Zentrum für Frauen „Casa Menina Mulher“.

Sie sind Opfer von Gewalt. Leider können nur 17O Frauen aufgenommen werden. Der Bedarf ist viel höher. Neben normalem Unterricht wird Lebenshilfe in allen Bereichen angeboten. Oft müssen die Probleme mit Psychologen aufgearbeitet  werden.  Man macht den Betroffenen klar, dass sie nicht Schuld an ihrer Situation sind, und dass es viele andere Frauen mit den gleichen Problemen gibt.  Einzeln oder in der Gruppe versucht man, diese Frauen zurück in ein normales Leben zu führen. Viele sind in für uns unvorstellbaren Verhältnissen aufgewachsen.

Früher haben die Mitarbeiter dieses Projektes auf der Straße gearbeitet. Jetzt kommen die Kinder und jungen Frauen ins Haus. Wie in allen anderen Projekten wird hier weitergebildet: Zuerst allgemeinbildende Schule, später im Bereich Telemarketing, Bürokraft und Grafikdesign. Das Projekt muss weiterentwickelt werden und die Psychologen, Lehrer und freiwilligen Helfer haben viele Ideen

An dieser Stelle versuche ich einmal die Frage zu beantworten Warum bekommen die Frauen hier so jung so viele Kinder. Weil sie so arm sind, hören sie viel früher auf, Kind zu sein.

Sie müssen schon sehr schnell Geld verdienen. Sie übernehmen schon in ganz jungen Jahren Verantwortung für jüngere Geschwister. Die Kinder sind immer allein. Sie leben auf sehr engem Raum. Sex sehen sie immer und überall. Auch im Fernsehen. Das Wetter und die luftige Bekleidung spielen sicher auch eine Rolle. Und das aller Schlimmste, die Kinder sind nicht aufgeklärt. So passiert es, dass schon  11 jährige, selbst noch Kinder ein Kind  bekommen.

Da wäre noch die Frage nach den Vätern. Die kommt später. Hier und heute sind wir in einem reinen Frauenprojekt.

Zusammenfassend kann man sagen. Je ärmer und ungebildeter die Frauen sind, umso früher und umso mehr  bekommen sie Kinder. Da ist es doch sehr erfreulich, dass es im Moment hier im Projekt keine Schwangeren gibt. Auch Aids ist im Augenblick nicht das große Thema. Ich merke, dass meine Fragen und die angesprochenen Probleme gar nicht die Hauptprobleme  sind. Die Frauen, die hier herkommen leben nur so dahin. Nur das Jetzt, also der heutige Tag zählt für sie. Das ist für uns schwer zu verstehen. Man muss diesen Frauen Zuversicht beibringen. Sie müssen lernen, an das Morgen zu denken. Sie müssen sich ihr Leben vorstellen. Sie müssen lernen, ihre Zukunft zu planen. Etwas aus ihrem Leben machen, einen Beruf lernen. Wo fängt man da eigentlich an?

Zunächst einmal braucht es wohl eine freundliche Umgebung, Menschen bei  denen man sich angenommen und wohl fühlt und natürlich etwas zu essen.

Man versucht die Fähigkeiten der Kinder, Jugendlichen und Frauen zu entdecken, um sie dann weiter zu fördern.

Wir besuchen einen Informatikkurs. Dann eine Tanzgruppe. Die Lehrerin erklärt uns, wie wichtig es ist, Körper und Seele in Einklang zu bringen. Wir dürfen uns zunächst zwei Tänze ansehen. Dann müssen wir mittanzen. Die Musik klingt irgendwie afrikanisch. Wir tanzen im Kreis und sogar ich kapiere es  schnell. So haben wir viel Spaß.

In der Malerwerkstatt staunen wir nur noch. Hier werden wahre Kunstwerke hergestellt. Diese lassen sich auch hervorragend verkaufen. Ein riesiges, sehr genau und fein gemaltes Mandala liegt auf einem Tisch. Es soll ein Rock werden. Anna ist fasziniert.


Wir müssen weiter in den Ausstellungsraum des Hauses. Hier finden wir mit leuchtender Stoffmalfarbe  angemalte Tischläufer T-Shirts, Röcke und vieles mehr. Es ist doch bald Weihnachten überlegen wir und kaufen ein. Alles wird in eine schöne Papiertüte eingepackt. Da brauche ich doch eigentlich meine selbst genähte Tasche nicht mehr und verschenke sie an Myrtes Raquele, eine junge Schneiderin und Malerin.

Nun müssen wir aber unbedingt noch Kuchen essen. Er ist noch warm und wir glauben, dass er aus Maismehl gebacken ist. So etwas Köstliches haben wir lange nicht mehr gegessen. Wir bedanken uns bei der Köchin und bei Maria de Lores und Anna Claudia Rodrigues,  die uns an diesem Nachmittag durch ihr Projekt geführt haben. Es ist schon dunkel als uns der Fahrer wieder abholt.

Wir sind beim Abendessen, als Schwester  Graça aufgeregt hereinkommt und erzählt. „Da draußen ist eine Schießerei. Die Erwachsenen schnappen sich unsere Kinder und benutzen sie als Schutzschild.“ Wir sind entsetzt. Als wir draußen sind, ist die Straße leer.

 

Samstag ,  6.  September

Heute wollen wir es langsam angehen lassen. Es war doch sehr viel in den letzten Tagen. Für unsere Köpfe und für unsere Füße und unser Herz.

Es ist Samstag, da sind keine Kinder im Projekt. Schade.

Wir beschließen an den Strand zu gehen. Aber man will uns nicht allein gehen lassen. Grace opfert sich wieder. Viele Drachen stehen am Himmel. Früher hat man damit Drogendealer gewarnt. „Nur früher?“  fragen wir uns

Die größeren Jungen und Männer spielen auf dem befestigten Strandstück Fußball. Wie man sich nur bei der Hitze so viel bewegen kann. Nirgendwo Schatten. In der kleinen Bucht geht Anna-Lena schwimmen. Die Wellen schlagen hoch. Hier gibt es viele Muscheln. Wir bleiben eine Weile und spielen im Sand. Da die Sonne es heute aber zu gut mit uns meint, müssen wir dringend in den Schatten  und gehen in Richtung Stadt.  Es ist schon seltsam, wie plötzlich die moderne Großstadt mit den Hotels  am Strand und den Hochhäusern aufhört und die Favelas beginnen. Auch auf diesem Spaziergang werden wir wieder in ein Haus eingeladen, denn die Kinder kennen uns vom Projekt her. Wir entdecken  noch eine zweite Station von Schwester Aurieta, die am Rande der Favela liegt. Hier arbeiten größere Kinder und  es werden die Erwachsenen geschult.  Immer wieder suchen wir Schatten und sind froh, als wir wieder zu Hause sind. Da wo wir heute Abend hinfahren, wird es noch heißer sein.

Ich lege mich in die Hängematte und versuche ein wenig zu ruhen. Es ist so laut. Im Oktober wird hier gewählt, Autos mit Boxen im Kofferraum und Fahrradfahrer mit Boxen auf dem Gepäckträger machen laute Musik und immer wieder Wahlpropaganda. Dazu das Hundegebell.

Es ist einige Mal passiert, das mal einzelne, mal ganze Gruppen von Kindern zu uns kamen und uns umarmt haben. Ich Esel hatte zunächst angenommen, das würden sie tun, damit wir uns  wohl fühlen, um uns eine Freude zu machen. In Wirklichkeit ist es genau anders herum. Sie brauchen unsere Umarmung. Es ist ja sonst niemand das tut.

Wir gehen runter und machen das Interview mit den drei Schwestern. Es sind übrigens „Missionarias de Jesus Crucificade“. Wir fragen: „Was wünscht ihr Euch für die Zukunft von „Turma do Flau“?

Es ist eine sehr lange Antwort, die wir erst in Deutschland übersetzen lassen werden.

Anschließend bedanken wir uns für alles und verschenken Schutzengel. Ich glaube wir haben viel zu wenig mitgenommen. Auch einige Kinder kommen und wir verteilen fertige Mäuse.

Es werden immer mehr Kinder und  wir brauchen immer mehr Mäuse. Anna  Lena und ich müssen neue machen. Die größeren Mädchen verstehen schnell und wir geben ihnen Nadel und Faden. Schwänze werden gedreht. Auch die drei Schwestern und die Köchin nähen Mäuse.

Jesus, ein sehr hellhäutiger Junge, bei dem wir schon zu Hause waren, möchte auch noch eine Maus für seine kleine Schwester. Wir kommen ins Schwitzen. Ich glaube, wir haben wohl 3o-4o Mäuse genäht. Dann heißt es plötzlich, du musst noch Koffer packen.

Es gibt noch Abendbrot und dann kommt unser Fahrer.  Die Köchin Maria nimmt mich an die Seite und sagt mir etwas sehr eindringlich. Ich verstehe es doch nicht und bitte Simon es zu übersetzen. Maria sagt: „Ich danke Euch für die Freude und das Glück, das ihr nach Brasilien gebracht habt. Gott segne Euch“. Wir umarmen an diesem Abend viele, viele  Freunde  und nehmen traurig Abschied.


Wir fahren wohl 40 km bis weit außerhalb von Recife. Der Busbahnhof ist so groß wie ein Flughafen.  Unser Bus geht um 20.15 Uhr. Wir sind viel zu früh  und müssen noch warten. Unser Fahrer und Schwester Graça warten mit uns. Endlich kommt er und wir verstauen unsere Koffer und das Akkordeon im Gepäckraum. Die Sitze sind weich, man kann sie weit zurückklappen und sie haben eine Fußablage. Anna-Lena ist traurig. Es fließen auch ein paar Tränen. Wir trösten uns gegenseitig und sind uns einig, so schön wie hier in Recife wird es nirgendwo  anders sein. Wir machen es uns gemütlich und schauen auf die vielen bunten Lichter der Stadt.  Noch kilometerweit begleiten und die Favelas von Recife. Kaum ist eine vorbeigezogen kommen schon die nächsten Lichter.

Irgendwie klappert es immer wieder. Sind das nur die vielen Schlaglöcher? Nach gut einer Stunde bleibt der Bus stehen.  Er ist kaputt. Alles aussteigen. Auf der anderen Straßenseite stehen mehrere verrostete Autos. Inzwischen ist es dunkle Nacht. Nur der Mond und einige Sterne leuchten. Die Grillen zirpen sehr laut. Wir setzen uns auf den Bürgersteig und schicken Christian eine SMS: „Wir sitzen bei km 152 auf der BR 41 zwischen Recife und Cajazeiras fest.“  Umgehend kommt die Antwort. „Was können wir hier aus Deutschland für euch tun?“ Jetzt wissen, wir, in Notsituationen können wir uns auf die Daheimgebliebenen verlassen. Auch, wenn es in Deutschland 3.00 Uhr Morgens ist.

Keiner regt sich auf. So eine Panne scheint nichts Ungewöhnliches zu sein. Wir nehmen es auch gelassen. Nach zwei Stunden kommt ein neuer Bus. Alles umladen und es geht weiter. Die Klimaanlage produziert Eiswürfel und obwohl wir alle dicke Socken und Sweatshirts tragen, frieren wir.  Haben wir eigentlich schon Sonntag?

Sonntag, 7. September

Ich habe kaum geschlafen. Anna-Lena fast die ganze Nacht und trotz einer Dose Einschlafbier war die Nacht für João auch nicht besonders. Als es hell wird, ist es draußen nebelig. Dann geht die Sonne auf. Durch das Busfenster sehen wir Strauch- und Buschwerk. Fast immer  eingezäunt, manchmal eine Ziege oder eine magere Kuh. Das geht viele, viele Kilometer so weiter. Alles droht zu vertrocknen, denn nur drei Monate im Jahr regnet es in dieser Gegend. Im Hintergrund liegen die Berge. Kilometerweit ziehen sich Zäune an der Straße entlang. Auf dem eingezäunten Land nur vereinzelt Spuren von Besiedlung, einige Rinder grasen in den Niederungen, in denen kleine Flüsse und Teiche zu sehen sind.  Dort ist es auch grün.  Wir können irgendwie so gar nicht mehr sitzen  und sind froh, als wir endlich ankommen. Ein großer hagerer Mann empfängt uns freundlich. Er heißt Antonio Cleide und spricht Deutsch und kennt sogar Ibbenbüren. Wie klein doch diese Welt ist. Antonio fährt einen brasilianischen Golf.  Wie sollen wir und unser Gepäck da nur hineinpassen. Es gibt ein Buch mit dem Titel „Mit einem Kühlschrank unterwegs in Irland. Wir sind mit einem Akkordeon unterwegs in Brasilien. Mit den Koffern auf dem Schoß fahren wir durch Cajazeiras. Zum Glück ist es nicht weit. Antonios Frau und sein Sohn Raphael begrüßen uns freundlich. Wir belegen das Kinderzimmer und Anna-Lena das Gästezimmer. Jetzt gibt es erst einmal Frühstück. Seit langer Zeit  in Scheiben geschnittener ganz leckerer Käse. Wir ziehen noch irgendeine kurze Hose und ein noch nicht so oft getragenes T-Shirt aus dem Koffer und es geht wieder los.  

Hier in Cajazeiras sitzt das Zentrum der CPT- Sertão, die kirchliche Landarbeiterpastoral (Comissão Pastoral da Terra).  Seit vielen Jahren unterstützt die Organisation  die Landnahme von „Bauern ohne Land“.   Wenn nachgewiesen wird, dass ein Großgrundbesitzer mit mehr als 850 ha Fläche sein Land nicht ausreichend bewirtschaftet,  können diese Menschen Anspruch darauf erheben und nach langen Verhandlungen mit der Regierung und häufigen Streitigkeiten vor Gericht ein Stück Land von  13 ha zur Bewirtschaftung bekommen. Die CPT unterstützt diese Landbesetzer mit Rat und Tat. Sie vertreten die Menschen vor Gericht, besorgen die notwendigen Papiere, vermitteln Kredite für den Bau von Häusern und der Anlage von kleinen Dörfern.

Wir fahren mit Antonio 15 km aus Cajazeiras  heraus. Am Straßenrand tauchen kleine, mit Plastikplanen bespannte Hütten auf. Eine Gruppe von Frauen, Männern und Kindern kommt  auf uns zu und begrüßt uns herzlich. Schnell sind einige Baumstümpfe als Sitzgelegenheiten gefunden. Wir stellen Fragen: nach ihrem Leben, nach ihren Intentionen, sich auf den beschwerlichen Weg gemacht zu haben.  Wir erfahren, dass sie mit 18 Familien die Landbesetzung begonnen haben. Schon zwei Jahre sitzen sie hier am Straßenrand. Ihre Arbeit auf den Farmen des Großgrundbesitzers haben sie aufgegeben. Sie versuchen, sich mit ihren Familien  als Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter durchzuschlagen. Vier Familien haben aufgegeben. Sie schätzen, dass es noch zwei Jahre bis zur Zuteilung des Landes dauern wird. Aber sie wollen durchhalten, obwohl die Polizei regelmäßig ihre Hütten zerstört.  Sie fragen uns,  ob es in Deutschland auch eine „Landreform“  gäbe. Wir erzählen ihnen, dass es solche Großeinheiten bei uns nicht gibt. Dass das Land sehr intensiv genutzt wird und die Bauern an ihre Kinder das Land weitervererben.  Wir berichten aber auch von den Schwierigkeiten deutscher  Bauern ihre Waren zu einem  gerechten Preis zu verkaufen.  Nun gehen wir von Hütte zu Hütte und sie zeigen uns, unter welchen Umständen sie leben müssen. Gekocht wird auf einem offenen Feuer vor der Hütte, Matratzen und Hängematten dienen als Schlafgelegenheiten. Ihr Hab und Gut füllt kaum eine Holzkiste. Dann verabschieden wir uns und versprechen in Deutschland über sie und ihre Bemühungen um Land zu berichten. So verlassen wir das Acampamento (sind noch nicht anerkannt) Boa Conquista in Cajazeiras. Auf dem Kreuz  auf dem Platz lesen wir in letzter Minute den Wahlspruch der hier Lebenden: „Wenn Gott für uns ist, wer ist dann gegen uns.“ -  Antonio erklärt: „ Unser Problem ist nicht die Dürre in dieser Halbwüste, sondern die Zäune, die ihr unterwegs gesehen habt. Viele der Großgrundbesitzer haben das Land im großen Stil erworben. Es ist Besitz.  Es wird aber nicht bearbeitet, denn  sie wohnen in Recife oder Rio des Janeiro. Gut, dass die Regierung diese Landreform beschlossen hat. Damit haben wir eine Rechtsgrundlage“.

Eigentlich wollten wir an diesem Tag  das Dorf „Frei Beda“, dass die Bewohner wegen seines Einsatzes nach Pater Beda aus Bardel benannt haben,  besuchen. Aber es liegt  zu weit von unserem Weg ab. So besuchen wir ein anderes Dorf, das aus der Landbesetzung hervorgegangen ist.  Nach einigen Kilometern biegen wir von der Asphaltpiste ab und es geht einige Kilometer über einen Schotterweg. Dann  die Einfahrt zum Dorf.  Die Menschen hier waren 2 Jahre auf der Straße, seit sechs, Jahren sind sie hier. Es ist eine der  25 Siedlungen mit ungefähr 1031 Familien, die die CPT- Sertão unterstützt. Diese Siedlungen nennt man „assentamentos“, denn hier sind die Forderungen der Menschen anerkannt. 

Mit der eigentlichen Landbesetzung aber ist es nicht getan. Die Arbeiter waren bisher nur Angestellte bei den Großgrundbesitzern und  handelten bei ihrer Arbeit auf den Gütern nur nach Anweisungen, nun müssen sie  ihren Pflanzplan  allein entscheiden. Dafür hält die Organisation  Seminare in ihrem Zentrum ab und  besucht die Bauern auf dem neuen Land. Saatgut wird ausgewählt, Pflanzpläne besprochen, Bewässerungen ausgebaut und angelegt. Mit einem Programm „1.000000 Zisternen für die Trockengebiete“ haben Regierung und UNICEF eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität der Menschen geschaffen. Auf jeden der Höfe sehen wir eine nummerierte Zisterne. 

Im  Assentamento Frei Daminão werden wir von der Familie Laelson erwartet, die uns ihr Haus und den Garten zeigt. Wir bewundern, probieren und schmecken alles was der brasilianische Garten zu bieten hat. Bananen, Ananas, Maracuja. Papaya, Avocado, Cashew, Mango  und Paprika. Neben der Landwirtschaft hat José eine Bienenzucht  und er produziert Honig. Drei Arten von Bienen hält er in den Stöcken rund um seine Felder. Eine Art soll nicht stechen, liefert aber eine besonders ertragreiche Honigsorte. Ein  Sekret dieser Bienen wird für Seifen, Salben und zu Heilzwecken verwendet.  Seine Frau ist für den gemeinschaftlichen Gesundheitsgarten zuständig. Stolz zeigt sie uns eine Fülle von Pflanzen, die der Gesundheit dienen: Salbei,  Fenchel, Penicilinpflanzen,… Sie ist ausgebildet durch die CPT und weiß, welche   Pflanzen bei Beschwerden als Sud, Salbe  oder Tees wirken. Für die Bauern hier entfällt so mancher Gang zum Arzt, wenn es um die kleinen Wehwehchen geht. Den Garten bearbeiten alle Familien gemeinsam, denn alle haben einen Nutzen. Als die Frau Hans-Jürgens Psoriasis  sieht, gibt sie uns eine Salbe, denn eine Bewohnerin des Dorfes habe eine ähnliche Erkrankung gehabt. Wir werden sie  ausprobieren.  Sie erklärt weiter: „Wichtig  ist uns, dass wir mit unserer Landwirtschaft zuerst die Familie ernähren können, was dann übrig bleibt,  wird auf dem Markt verkauft“. - „ Die Höfe sind autark“; meint  Antonio.  Und nach den weiteren Besuchen an diesem Tag verstehen wir was er meint. Alle Höfe  besitzen einen großen Garten mit einem Mandala. In der Mitte der kleine Teich, der durch ein Bewässerungssystem gespeist wird, darum herum in der ersten Reihe Pflanzen, die sehr viel Wasser benötigen wie Salat und Kräuter, dann folgen  die anderen Gemüsesorten. In der Hitze der Halbwüste muss jeden Tag ausgiebig gewässert werden. Dafür gibt es fast ganzjährig einen Ertrag.  Bananenbäume und Hochpflanzen geben dem anderen Gemüse den notwendigen Schatten. Fast jeder mästet ein Schwein, hat eine Ziege und einen Stall für sein Geflügel. Stolz werden uns die Ergebnisse der Arbeit präsentiert und von allem müssen wir probieren. 


Das ist ein anderer Geschmack als im Supermarkt in Deutschland. Hans probiert eine Cashew-Nuss. Das Fruchtfleisch enthält sehr viel Eisen und schnürt die Kehle zu. Aber Antonio weiß schnell einen Rat. Ein bisschen Salz  naturalisiert das Eisen, und so kann mein Mann bald wieder frei atmen. Wir erleben einen grandiosen Sonnenuntergang am Stausee, der das Dorf mit Wasser versorgt. Als wir schon fast im Auto sitzen treffen wir noch auf einen alten Mann, er erzählt uns: „35 Jahre habe ich bei einem Großgrundbesitzer gearbeitet und mir immer ein Fahrrad gewünscht. Nie konnte ich mir eins leisten. Dann nach zwei Jahren auf der Straße habe ich hier mein Haus und Grundstück bekommen. Nun  habe ich ein Auto, kann meine Familie ernähren und am Ende des Monats bleibt noch etwas übrig.“ – „Sein Erfolgskonzept“, so Antonio: „ Er hatte  zwei Tassen mit Petersiliensamen. Die hat er ausgesät  und seine Frau verkaufte sie auf dem Markt. Die Qualität ist gut und nun baut er für die Menschen in der Stadt Petersilie an.“

Zu Hause erzählt Antonio aus seinem Leben:„ 1995 hatte ich einen schweren Autounfall. Ich stieß mit einem Taxi zusammen. Der Taxifahrer war Schuld am Tod zwei meiner Mitarbeiter. Ich hatte beide Beine kaputt und lag drei Monate im Krankenhaus. Dann konnte ich mit zwei Krücken mühsam gehen. Das eine Bein hing aber irgendwie daneben. Mit einer Gruppe von Beda fuhr ich nach Deutschland. Bei einem Gottesdienst in Kassel schleppte ich mich mühsam  die Stufen zum Altar hin auf. Das sah ein Arzt, der den Gottesdienst besuchte. Nach dem Gottesdienst fragte er nach, was mit meinen Beinen passiert sei und lud mich zu einer Untersuchung ins Krankenhaus ein. Man hatte mich in Brasilien falsch behandelt. In einigen Jahren hätte man das eine Bein amputieren müssen. Der Arzt operierte mein Bein und ich blieb so drei Monate  in Deutschland zuerst im Krankenhaus, später in einer Familie. So lernte ich Deutsch sprechen und fuhr ohne Krücken zurück nach Hause.“

Antonios Frau ist sehr still und nicht ganz gesund. Sie hatte eine Fehlgeburt und der Arzt machte den beiden klar, dass es besser sei, nicht wieder schwanger zu werden. Ein halbes Jahr später fanden   sie eine Schachtel vor ihrer Tür. Darin lag ein neugeborenes Kind. Antonio sagt, das war Gottes Fügung.

Die Nachbarn, Freunde und Verwandten kamen und brachten Babykleidung und Spielzeug. Man suchte nach der Mutter, aber auch die Behörden konnten nichts herausfinden. Raphael konnte ½ Jahr später offiziell  adoptiert werden. Er kennt seine Geschichte und seine Freunde und im Kindergarten kennt man seine Geschichte auch. Wir essen mit dieser kleinen glücklichen Familie zu Abend. Es gibt Suppe, wie fast jeden Abend und Brot. Der Rest, es ist viel übrig geblieben, wird zu den Armen gebracht.  Ja, auch hier gibt es viele Arme. Aber sonst ist vieles anders als in Recife.

Es ist viel sauberer und ungefährlicher. Später gehen Antonio, Anna und João noch ein Bier trinken unten am Stausee. Ich bin sooooo kaputt!

 

Montag, 8. September

Wir haben gut geschlafen. Heute Morgen fahren wir zum Büro der CPT. Aber zuerst müssen wir mit unseren drei Koffern, dem Akkordeon, Rafael und Joseline ins Auto passen. Nichts ist in diesem Land unmöglich.  Unterwegs denken wir: „Wie gut, dass wir noch nie etwas mit der Bandscheibe hatten.“

Es sind sehr einfache Büros aber wir haben den Eindruck, dass  es hier viel zu tun gibt.  Mit   Socorro fahren wir zum Busbahnhof und kaufen Fahrkarten. Für drei Stunden Busfahren bezahlen wir neun Euro. Heute Vormittag steht die Altstadt auf unserem Programm. Wir besichtigen die Kathedrale mit Bischofsitz.  Wir gehen in das Generalvikariat, aber leider ist der Bischof unterwegs und wir können ihn nicht treffen. „Er hätte euch sicher gerne gesprochen“ – So einfach ist das in Brasilien.

Danach besuchen wir eine allgemeinbildende Schule. Die Direktorin begrüßt uns herzlich und  wir werden durch die Schule geführt.  Es gibt einen Kakteengarten. Das wäre wohl in Deutschland unmöglich. Die Turnhalle hat eigentlich nur ein Dach. Ringserum sind Netze gespannt. Da werden einige Mädchen auf uns aufmerksam und wollen mit uns reden.  Es werden immer mehr und der arme Sportlehrer hat keine Chance. Sie wollen wissen wo wir herkommen und was wir hier machen.

Na, wie das wieder einmal mit unserer Unterhaltung klappt. 

Diese Schule hat auch eine eigene Kapelle. Ich glaube, dass hat João sich auch immer für seine Schule in  Laggenbeck gewünscht. Hier sind 90 % der Bevölkerung katholisch. Maria ist hier sehr wichtig. Man versteht sie wohl einfach als Mutter, mit all den Sorgen und dem Leid, das sie mit Jesus hatte. Zurück in der CPT gibt es Mittagessen. Der Speiseraum  befindet sich in einem Gebäude, in dem auch Schlafräume und Duschen für die Landarbeiter untergebracht sind. So können sie einige Tage bleiben und an den Vorträgen und Veranstaltungen teilnehmen.  Das Essen ist gut und reichlich und einige Besucher sitzen an den Nebentischen und versuchen,  sich mit uns zu unterhalten. Es ist eine gute und freundliche Atmosphäre. Antonio ist ein gefragter Mann und sitzt schon seit Stunden mit einigen Professoren zusammen, um neue Projekte anzugehen. Häufig ist er unterwegs in ganz Lateinamerika, um  die Idee „Land für Landlose“ und das Vorgehen der CPT vorzustellen.  Bald heißt es Abschied nehmen. Obwohl wir nur kurze Zeit bei Antonio gewohnt haben,  ist es wieder eine traurige Angelegenheit.

Wir sitzen im richtigen Bus. Die Leute schauen uns neugierig an. Mit unserer weißen Hautfarbe ist es nicht schwer aufzufallen. Touristen gibt es hier nicht. Wer fährt schon freiwillig nach Crato?

Nach einer holprigen, kühlen Fahrt in einem modernen Reisebus kommen wir  nach drei Stunden Fahrt in Crato an. Raphael und Hermano holen uns am Busbahnhof ab. Erstaunlicher Weise passen sechs Leute samt  Koffer wieder ins Auto. Diesmal haben wir eine andere Technik. Ich nehme Anna-Lena seitlich auf den Schoß. Die Straße ist breiter und geteert. Es ist zwar der gleiche Baustil wie in Recife, aber die Häuser hier in der Stadt sind in einem besseren Zustand. Auch die Probleme sind hier etwas anders. Die meisten Kinder haben Eltern. Zwar sehr arme, die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, aber die meisten Kinder bekommen doch Zuwendung. Das alles erklärt uns Raphael. Ein gebürtiger Brasilianer, dessen Muttersprache Deutsch ist. Raphael wurde als Baby nach Deutschland adoptiert und jetzt macht er hier in seinem Geburtsland seinen Friedensdienst. Zuerst fahren wir ins Projekt „Nova Vida“. Wir sind sehr neugierig und werden positiv überrascht. Alles ist groß und freundlich. Es gibt sogar einen bunten Spielplatz mit Schaukeln und einer Rutsche.  In verschiedenen Gruppen werden hier 3- 18 jährige Kinder bzw. Jugendliche gefördert. Eine tolle Idee ist der Verleih-Service. Gegen Gebühr kann man sich hier  ein Brautkleid, kommunionkleid, Tischdecken, und Blumenschmuck aus Plastik ausleihen. Am Wochenende ist manchmal alles ausgeliehen erklärt man uns.  Im zweiten  Haus gibt es eine Nähwerkstatt. Singer und Pfaff- Nähmaschinen rattern hier um die Wette. Ich bestaune eine mir unbekannte Textil-Technik und bekomme gleich eine Kissenplatte geschenkt. Hier im Haus ist auch die Krankenstation untergebracht. Einmal in der Woche kommt ein Arzt und behandelt die Kinder. Einige Mitarbeiter in diesem Projekt werden vom Staat bezahlt. Im Oktober sind Wahlen in Brasilien, da ist der Bürgermeister im Augenblick großzügig.  Ich denke, der Bürgermeister kann froh sein, dass es solche Projekte gibt sonst hätte er sicher noch einige Probleme mehr.

Wir fahren zu Hermano und Socorro nach Hause. Nach all den ärmlichen Verhältnissen ist das hier ein Paradies. Es gibt einen Garten und einen Pool. Die Küche ist draußen und Socorro hat eine Köchin. Wir werden in einem schönen Zimmer in einem Doppelbett schlafen und Anna-Lena in einem Kinderzimmer. Zwei weiße Wuschelhunde stürmen auf Anna-Lena und lassen sich von ihr ausgiebig kraulen. Unsere Unterhaltung ist zunächst etwas schwierig, aber Anna-Lena wird immer mutiger und wir verstehen ja auch schon ein bisschen. Inzwischen weit mehr als zehn Worte, aber sprechen traue ich mich nicht.  Zum Nachtisch gibt es „Crema“, ein Eisgemisch mit Fruchtsaft. Anna-Lena kann gar nicht genug davon bekommen und Hermano  gibt ihr kräftig nach.  Müde gehen wir schlafen. Während João bald gleichmäßig atmet, quälen mich die Moskitos. Die Salbe, die wir von der Landarbeiterfrau gegen die Schuppenflechte gekauft haben wirkt Wunder. So gut hat es schon lange nicht mehr ausgesehen. 

Dienstag, 9.September

Um 6.30 Uhr wird zaghaft an unsere Tür geklopft. Wir stehen auf und versuchen zu duschen. Das ist mit einem ganz dünnen Wasserstrahl gar nicht so einfach. Aufgeregt kommt Socorro zu mir und schüttelt mit dem Kopf. Ich hatte meine Schlappen gestern Abend unter dem Tisch stehen lassen und Lilly, der kleine Wuschelhund, hat sie zerfetzt. Macht nichts, ich wollte sie sowieso in Brasilien lassen. Da gibt es schon die nächsten Tiere zu sehen. 3 Pinselohräffchen klettern hier herum und lassen sich mit Bananenstückchen füttern. Wir frühstücken Brötchen mit Honig und Banane.

Mit Hermano und Socorro fahren wir ins Projekt Nova Vida. Dort erwarten uns die Kleinsten in einem Stuhlkreis. Uns fällt auf, dass hier die meisten Kinder viel hellhäutiger als in Recife sind. Es wird gesungen und getanzt. Dann bekommt jedes Kind in bunten Tassen Milch und ein Plätzchen. Anschließend geht es in den Gruppenraum und  wir dürfen mit  Knetgummi spielen. In dem kleinen Vorraum gibt es Bälle und ein bisschen  Plastikspielzeug. Die Betreuerin wünscht sich ein Memory, Puzzel oder 4- Gewinnt.

Die größeren Kinder lernen das ABC. Uns fällt auf, dass einige Buchstaben fehlen.  So zum Beispiel das „K“ In einer Ecke der Halle arbeitet eine Gruppe Jungen zusammen mit einem Mitarbeiter. Auf dem Tisch alte Zeitungen. In den Regalen große geflochtene Körbe. Ich schaue zu.  Die Zeitungseiten werden ganz eng zu dünnen Stäben gedreht und mit Leim bestrichen.


Nun verwendet man sie wie Weidenruten, und  Flechtet sie zu großen Körben, Tellern Schubkarren und Blumentöpfen. Ich bin ganz begeistert davon, was man alles aus alten Zeitungen machen kann Aus Plastikflaschen werden Erdschieber und Bagger. Wir dürfen mit basteln und stellen uns gar nicht ungeschickt dabei an.

Raphael setzt sich zu uns und erzählt uns einiges von den Kindern. So hat es fünf Monate  gedauert, bis sich Varina von Raphael in den Arm nehmen ließ. Nach den Ferien kommt Paola immer ganz abgemagert  zurück ins Projekt. Man kann die Rippen zählen.  Gut, das es Nova Vida gibt, denken wir.

Zu Hause erwartet uns schon ein leckeres Mittagessen, anschließend ein kleines Schläfchen. Um 13.3o Uhr geht es zurück ins Projekt. Hermano wundert sich, dass ich mein Kopfkissen mitschleppe. Ich habe keine fertige Maus mehr. Und so setze ich mich an einen Tisch und fange an zu nähen. Die Kreativlehrerin  hört mit ihrer Bastelarbeit auf und setzt sich zu mir. Auch die Mädchen werden neugierig. Der Kunstlehrer der Jungen, Samuel,  hört auf und fängt an eine lila Maus zu nähen. Alle reden auf mich ein. Ich zeige ihnen Ohren, Augen und Schwänzchen. Alle nähen Mäuse.


Jetzt versteht man auch, warum ich ein Kissen mit mir herumschleppe. Socorro lacht und sagt: „Das ist bestimmt leer, wenn du nach Hause fährst“. Genauso hatte ich es mir ja auch gedacht. Einen Teil der genähten Mäuseteile , Filz und Wolle lasse ich hier. Augen brauchen sie nicht. Der Kunstlehrer sagt, er hätte Perlen.  Er geht und kommt mit wunderschönen Perlenohrringen zurück. Die schenkt er uns und Anna-Lena überlegt, ob sie sich vielleicht doch Löcher stechen soll. Nun sind unsere Mäuse auch tief im Innern von Brasilien angekommen. Ich gehe über die Straße  zu den Frauen im anderen Gebäude. Dieses Haus konnte vor einigen Jahren dazugekauft werden. Früher war es ein Bordell, ein Freudenhaus. Nun, ein Haus der Freude ist es geblieben. Lachende Kinder und tanzende Jugendliche erfüllen es mit Leben. Ich habe eine Jeanstasche mitgebracht und schenke sie der Chefin der Nähwerkstatt. Sie wollen überlegen, ob sie sie nacharbeiten. Mich lehren sie eine kunstvolle Perlentechnik. Eine Tanzgruppe möchte, dass wir kommen. Sie laden Anna-Lena ein mitzutanzen. Inzwischen kann sie es so gut, dass sie Applaus bekommt.

Die Familie  will uns noch ein bisschen die Stadt zeigen und schon sitzen wir wieder im Auto. Wir sehen die Kathedrale, das Priesterseminar und die Universität an. Von einem Berg haben wir eine wunderbare Aussicht über die Stadt und das dahinterliegende Land.

In unserem Paradies angekommen gehen Anna, João und Clara in den Pool. Ich lege mich in die Hängematte und trinke ein Glas Bier. Eigentlich trinke ich gar kein Bier. Uns geht es so richtig gut. Ein kleines Schäfchen springt zu mir in die Hängematte und lässt sich ausgiebig kraulen. „Mäh“, sage ich.   Clara findet das so lustig und bringt mir auch noch den zweiten Hund. „Mäh“, sagt sie und lacht. Später erzählt uns Socorro, das sie die beiden Töchter adoptiert haben. Besonders mit Clara hatten sie viele gesundheitliche Probleme. Noch heute schläft sie in der Hängematte im Elternschlafzimmer. Die beiden nennen ihre Adoptivkinder ihre Herzenskinder. Wir sind sehr müde und gehen früh schlafen. Da ich heute einen langärmligen Schlafanzug trage, stechen mich die Mücken nur an den Händen und Füßen.

 

Mittwoch, 10. September.

Nach einer kalten Dusche und einem leckeren Frühstück geht es zum Projekt. Von dort werden wir mit einem Kleinlaster abgeholt. Anna und Raphael, müssen auf der Ladefläche sitzen. Wir fahren aus der Stadt heraus, immer weiter in die Halbwüste. Es geht bergauf und wieder runter. Die beiden dahinten werden ganz schön durchgeschüttelt und vom roten Sand zugestaubt. Nach vielen Kurven kommen wir in „Verde Vida“ (Grünes Leben) an. Es ist eine Oase, ein Paradies für Kinder und Tiere. Hier begrüßt uns der Künstler Marcos. Angefangen hat er mit Malerei und Musik. Zunächst hat er mit Aurieta zusammengearbeitet. Dann hat er viele Bilder gemalt und sie bei einem Deutschlandaufenthalt verkauft. Wir kennen einige seiner Bilder. Sie sind sehr farbenfroh und aussagekräftig.  Von diesem Geld hat er dieses Land gekauft und vor 14 Jahren ein neues Projekt  zunächst mit 2O Kindern begonnen. Heute sind es 200 Kinder. Marcos kann eigentlich alles. Es gibt einen Kindergarten, Musik, Tanz und Tonprojekte. Einen Schulgarten, eine Zierfischzucht, ein Zirkusprojekt einen Obst und einen Gemüsegarten. Das Gelände ist von mehreren großen und kleinen Seen umgeben. Marcos geht mit uns herum und zeigt uns alles. Alle Wände sind bemalt und mit irgendeiner anderen Technik verschönert.  Wir kommen zu einem großen See. Auf der anderen Seite sehen wir eine kleine Kirche. Natürlich hat die auch Marcos selbst entworfen, gebaut und innen gestaltet. Im See kann man baden und fischen. Wir kühlen unsere Füße. Leider ist der Weg zur Kirche zu weit für uns. Marcos will uns die großen Felder zeigen, wo Bohnen, Soja und alles andere angebaut wird. Er meint, bei diesem Wetter sollten wir eine Abkürzung nehmen. Wir klettern einen Berg hinauf, quetschen uns durch einen Stacheldrahtzaun und gehen über ein Maisfeld. Anschließend kriechen wir durch dorniges Sojagebüsch. Marcos weiß nicht weiter. Wir haben uns verlaufen. Es ist sehr heiß, 38.Grad, ich habe Durst, meine Beine sind von den Dornen blutig gerissen  und Anna hat 12 Dornen in ihren Flip Flops. Marcos meint, die Richtung stimmt und so kommen wir an einen großen See. Hier kennt er sich wieder aus und wir erreichen unbeschadet „Neues Leben“. João und ich beichten uns später gegenseitig, dass wir Angst  um unser Leben hatten.

 

Vida ernährt sich fast ausschließlich von eigenem Anbau. Der Staat gibt 5OO Reais im Monat Essenszuschuss für die Kinder dazu.

Es gibt auch Mittagessen für uns. Reis, Sojagemüse, Salat und Fleisch. Das Sojagemüse schmeckt uns besonders gut. Der Künstler braucht jetzt eine Hängematte. Wir auch! Er gibt uns zwei und  bald schaukeln wir unter Mangobäumen im Obstgarten. Was geht  es uns doch wieder gut.

 Jetzt fahren wir mit Marcos Auto zu den Familien der Kinder. Sie wollen uns zeigen wo und wie sie wohnen. Sie sind sehr stolz auf ihr Zuhause. Wieder bekommen wir einfachste Verhältnisse zusehen. Winzige Zimmer für bis zu 12 Personen. Die Straße ist so holprig und so steil, dass ich Angst habe. Wir kommen auch zu dem Haus, in dem Duca wohnt. Ihr übergeben wir das Akkordeon und machen ein Foto von ihr. Duca spielt uns etwas vor und wir stellen fest, das Schleppen hat sich gelohnt. Dieses Instrument ist jetzt mit Abstand, das Wertvollste im ganzen Haus. Schon irgendwie komisch aber wer weiß heute schon, was einmal aus Duca wird.

Zurück in Verde Vida schauen wir uns eine Probe im Theater an. Ein Stück ist so traurig, dass wir gar nicht klatschen  können. Anna spielt noch ein bisschen Saxophon, dann gibt es Kaffee oder besser Ananasmilch und so eine Art  gerollter Pfannenkuchen aus Maniokmehl und Salz. Mein Fall ist das nicht. Mark stellt sich noch zu einem Interview zur Verfügung.

Der Kleinlaster muss angeschoben werden. Die Kinder kennen das schon. Marcos probiert die Bremsen. In Deutschland würde man so ein Auto sofort aus dem Verkehr ziehen. Später in Deutschland erfahren wir, dass Marcos gar keinen Führerschein besitzt. Wird er von der Polizei angehalten, wechseln einige Scheine ihren Besitzer.

Wir fahren mit ihm ins Dorf. Mindestens zehn Kinder und die Köchinnen nehmen wir mit bis zur nächsten Siedlung. Unterweges kommen wir auch an dem kleinen Bauernhaus vorbei in dem Aurieta geboren wurde. Den Xenofontes gehören hier in der Gegend große Landgebiete. Daher ging Marcos auch hier hin, um sein Projekt anzulegen, nachdem er viele Erfahrungen bei Aurieta in Recife gemacht hatte. 

Mit Hilfe der Prefectura hat Marcos hier eine Internetschule und ein Büro eröffnet, um auch älteren Jugendlichen eine Chance zu geben. Hier entstehen auch die Filme, die schon Preise eingebracht haben. Marcos ist eben Künstler und versucht seine Ideen an die Kinder und Jugendlichen weiterzugeben. Da Anna das T-Shirt von Vida Verde so Klasse fand bekommt sie hier auch eins in der passenden Größe geschenkt. Auch eine Musik-CD mit tollen Liedern von Marcos komponiert wechselt den Besitzer. Wir müssen warten. Ich frage Marcos, ob ich in ein Geschäft gehen dürfe. Ein Mädchen aus dem Projekt soll mich begleiten, meint Marcos.

Ich suche eine Hängematte, aber man versteht mich natürlich nicht. Mit einem Faden und einer Schaukelbewegung versuche ich meine Frage zu bebildern. Es versteht mich niemand? Oder doch?

„Hier nicht“. Aber der Geschäftsmann begleitet mich über die Straße, einen kleinen Weg hinauf. Man schiebt mich in ein kleines Haus. Hans-Jürgen und Ana kommen hinterher. Aus dem hinteren Raum werden zwei Hängematten gebracht. Wir stehen vor dem Haus. Inzwischen sind  ungefähr zwölf Dorfbewohner dazugekommen. Anna fällt die Entscheidung schwer: „Azur“ oder „Verde“. Wir lassen abstimmen. Doch dann kommt Marcos: „Grün ist die Farbe des Lebens!“ Damit ist die Entscheidung gefallen: GRÜN. Das war mit Sicherheit die erste Matte, die ein Deutscher in diesem Laden gekauft hat.  Ein Kleinlaster in einem noch guten Zustand bringt uns nach Crato. – Und wir machen uns schon in Deutschland verrückt, wenn ein unser Auto eine Schramme hat. Das sieht man in Brasilien viel lockerer. Zu Hause  gehen wir im Pool schwimmen und ruhen uns aus. Ich setzte mich hin und schreibe. So wie jeden Tag, denn ich will nichts vergessen.

Am Abend zeigt mir Socorro ein Handarbeitsheft mit Blumen aus Schleifenband. Sie findet diese Technik so schön,  kann sie aber nicht. – Ich aber. Wir basteln gemeinsam. Hermano und Hans-Jürgen machen sich ein wenig lustig über unseren Eifer.  Dann zeigt mir Socorro eine Blume mit der man Taschen verzieren kann.  Das hatte ich ganz vergessen. Aber mir fällt plötzlich ein, dass Christian Bilder meiner Patchworkarbeiten ins Internet gestellt hat. Anna kennt zu Glück die Internetadresse und  Hermano und Socorro sind ganz begeistert und wir müssen versprechen, auch die neusten und letzten Arbeiten hier einzustellen.  Es ist spät als wir an diesen Abend ins Bett gehen.

Wenn wir  alles richtig verstanden haben gibt es drei Hausangestellte: eine Frau bügelt und wäscht für den Haushalt und versorgt auch die Kleider aus dem Projekt. Eine andere ist für den Haushalt zuständig und ein Mann  bringt Pool und Garten in Ordnung. Alle drei werden auch hier im Haus verpflegt. Sie werden auch an den Tisch gebeten, wollen aber nicht. Socorro meint, sie seien zu schüchtern.  Auch hier im Privaten  leistet die Familie einen sozialen Beitrag, denn die drei Angestellten haben durch sie ein Auskommen.

Wenn man auch die Sprache nicht spricht, ist es gut wenn man lächeln kann, denn das versteht jeder.

 

Donnerstag,  11.September

Wir fahren Buskarten kaufen. Unterwegs sehen wir viele Mototaxis. Das sind Motorräder, die dich überall hinfahren. Viel schneller als ein Auto. Ich finde das ganz schön gefährlich, ohne Helm bei dem Tempo.  Anna trägt eine lange Hose. Hermano hat sie darum gebeten. Wir fahren ins Präsidium. Es ist ein sehr modernes Gebäude mit einem großen Innenhof.  Hermano spricht mit einigen Leuten, dann geht es weiter. Wir kommen in ein kleines Büro. Es gibt einen Direktor und eine Direktorin aber wovon? Dann gehen wir heraus und durch eine andere Tür wieder hinein. Polizisten begrüßen uns freundlich. Wir sind im Gefängnis. Zunächst eine Gemeinschaftszelle. Einer streckt uns seine Hände entgegen. Wir lächeln freundlich und sind irgendwie überfordert. Ein Flur und wir stehen wieder hinter Gitterstäben. Wohl 3o Männer drängen sich an die Tür und wollen mit Hermano sprechen. Hermano hat einen Stapel Papier mit Unterlagen dabei. Er redet mit den Männern. Man merkt, dass er es gut mit ihnen meint. Einige sehen ja ganz freundlich aus, aber einigen möchte ich wirklich nicht nachts allein auf der Straße begegnen. Ein Mann reicht Anna einen Papierschwan durch das Gitter. Sie bedankt sich und reicht ihm die Hand. Nun wollen auch einige andere unsere Hände schütteln. Was können wir mehr tun. Wir gehen weiter und kommen zum Gefängnishof. Hier liegen die Gefangenen auf Decken auf dem Boden. Es gibt einige Matratzen und einige Hängematten. Hier gibt es Insassen mit leichten Verbrechen, so eine Woche Haft, für Diebstahl, aber auch Schwerverbrecher.  In einem kleinen Unterrichtsraum werden die Häftlinge unterrichtet. Die meisten können weder lesen noch schreiben. Die Zeit im Gefängnis wird so sinnvoll genutzt, überlege ich mir. Ein schmaler Flur, mit zwei Gasherden und riesigen Töpfen ist die Küche. Er führt ins Frauengefängnis. Den Frauen, so erklärt uns Raphael später, geht es am Schlimmsten. Auch Hermano erklärt uns, dass die Arbeit mit den Frauen sehr schwer ist. Er kämpft für die Rechte der Gefangenen und sorgt dafür, dass es hier einigermaßen erträglich zu geht. Mit Deutschland kann man es gar nicht vergleichen. Wir merken, dass wir von den Männern mit Spiegeln beobachtet werden. Oben auf dem Turm steht ein schwer bewaffneter Polizist.  Eine der Frauen ist hier im Gefängnis schwanger geworden. Von ihrem Mann, von einem Mitgefangene oder von einem Polizisten. Alles wäre möglich! Wenn man schwanger ist, kommt man hier oft früher raus. Wir sind um einige Erfahrungen reicher aber auch froh, als wir das Gefängnis wieder verlassen.

„Die Tage hier sind wie eine Pralinenschachtel, man weiß nie was drin ist“.                                                                    


  Nach dieser doch sehr bedrückenden Angelegenheit, fahren wir zum Gemüsemarkt. Eine riesige Halle voller Obst und Gemüse. Da ging uns wirklich das Herz auf. Es war so bunt und die Gewürze rochen so gut. Wir kauften so Einiges und bestaunten vieles Unbekannte. Hermano kauft hier auch für das Gefängnis ein. Am Sonntag bringt er es den Gefangenen und sorgt so dafür, dass sie ausreichend Vitamine bekommen. So einfach kann man helfen. Wir kaufen eine riesige Wassermelone für zwei Reais, das ist weniger als ein Euro.                                                                                         

Wie schon gesagt, auch die Vormittage sind hier länger. Wir fuhren nun in eine sehr armselige Wohngegend. Die Straßen sind nicht gepflastert und die Häuser sind an einen Berghang gebaut. Die alten Häuser sind sehr baufällig und bestehen aus Astgeflecht und sind mit Lehm verschmiert. Immer wenn es regnet- es tut es zwar selten, aber wenn, dann richtig- brechen Stücke der Lehmhäuser  ab. Einmal ist eine ganze Wand wegespült  worden und die Menschen lebten im Freien. Da müsste dringend geholfen werden. Hermano, Raphael, die Familie, Freunde und Nachbarn haben angepackt und gemeinsam hat man zwei neue Häuser gebaut. Diesmal aus Stein und etwas größer. So ein neues Haus kostet etwa 18oo Euro. In diesem Fall hatte Geld aus Deutschland geholfen. Es besteht nur aus einfachen roten Steinen, Holzlatten und Dachpfannen. Ohne Putz. Die Heiligenbilder hängen einfach so auf den rohen Steinwänden.

Anschließend besuchen wir noch eine Familie in einem Lehmhaus. „Neugebaut hält so ein Haus ca. drei Jahre.“ erklärt uns der Mann. Da ist so ein Steinhaus schon ein riesiger Fortschritt.

Gleich nach dem Mittagessen geht es zurück ins Projekt. Wir besuchen eine junge Frau, die gerade ein Baby adoptiert hat. Ihr Mann ist damit einverstanden gewesen.  „Wo sollte das Kind denn hin?“ Die Mutter der Kleinen ist drogensüchtig und kümmert sich schon nicht um ihre anderen beiden Kinder. Ich finde es toll, dass sie sich- auch wenn sie nur wenig verdient – noch um die Not anderer kümmert. Hier hat die Idee Hilfe zur Selbsthilfe gezündet.   Sie hat schon drei  Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen. Sie ist Friseurin und sitzt mit dem Baby vor ihrem Salon. Auch wir dürfen natürlich das kleine Baby auf dem Arm halten.  So sitzen wir einige Minuten in der Sonne vor dem Haus, so wie die Brasilianer das auch tun und Rafael fragt und übersetzt, was wir wissen möchten.

 

Den Brasilianern liegen das Tanzen und die Musik im Blut. So kommen wir auch hier in Crato in den Genuss einer Tanzvorführung. Alle Kinder im Projekt suchen sich um uns herum ein Platz zum Sitzen- auch die Kleinsten. Zuerst ein Tanz mit Blumenbögen, alle Mädchen und Jungen tragen die gleichen Kostüme. Ein farbenfrohes Bild. Nun folgt ein Tanz um den Bänderbaum. Etwas angelehnt an die Tänze der Westfalen. Die Jungen und Mädchen geben ihr Bestes. Da ist es auch nicht schlimm als sich plötzlich die Bänder etwas verheddern.  Alle sind froh und die Tänzer konnten wieder einmal zeigen, was in ihnen steckt, denn Tanz und Musik sind der Ausgangspunkt für alle weiteren Bemühungen im Projekt.


Aber die Zeit drängt. Wir müssen wieder los und  fahren mit Hermano in das kleine Projekt „Nosso Lar“ („Unser Heim“). 58 Kinder erwarten uns dort. Im Eingangsbereich sitzen einige Frauen und nähen an  sechs Maschinen Unterwäsche für den Verkauf und für das Projekt. Sie verkaufen  auf dem Markt der Stadt und das ist ein gutes Geschäft, das Geld für die Arbeit mit den Kindern einbringt. Wir erfahren, dass zwölf Frauen diese Aufgabe übernommen haben und in zwei Schichten arbeiten.

Im nächsten Raum treffen wir auf eine Gruppe älterer und jüngerer Kinder,  die einen Alphabetisierungskurs absolvieren. In den Favelas gibt es trotz staatlicher Schulen viele Kinder und Erwachsene, die nicht lesen und schreiben können. Das aber ist eine wichtige Voraussetzung, um am öffentlichen Leben teilnehmen zu können. Wer keine Bildung hat bleibt auf der Strecke. Auch Computerwissen wird hier vermittelt, denn die neue Kommunikationstechnik hat auch vor Brasilien nicht Halt gemacht,  gehört inzwischen zur Allgemeinbildung und schafft  Vorteile bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle.  Die Lehrerinnen im Projekt sind noch sehr jung, aber ihre Begeisterung überträgt sich. Ein kleines Mädchen zeigt uns eine Weltkarte, die sie abgezeichnet hat. Wir erklären ihr, wo wir wohnen und sie staunt, dass wir eine so weite Reise unternommen haben, um sie zu besuchen.

Aber auch Kreativität ist gefragt. So basteln mehre Mädchen aus Kokos und anderen Naturmaterialien wunderschöne Ketten. Anna ist begeistert. Aber schon setzt die Musik des Gitarren-Orchesters ein. Hier entdecken wir, dass in der Hautsache Jungen die Musik machen, es sind nur zwei Mädchen vertreten. Helio, der Leiter hat bis vor einige Jahre als Musiklehrer bei Hermano gearbeitet, dann vor drei Jahren mit seiner Frau ein eigenen Projekt gegründet. Er ist sehr geschäftstüchtig und arbeitet intensiv mit dem Bürgermeister zusammen. Jetzt hat ihm die Stadt ein Grundstück gekauft, wo bald ein neues großes Haus gebaut werden soll, denn das Projekt platzt aus allen Nähten. Man muss die Kinder von der Straße holen und etwas Sinnvolles mit ihnen unternehmen lautet die Devise in Nosso Lar. So stecken die beiden viel Energie in ihre Arbeit, denn „man muss verhindern, dass die Kids in der Drogenszene oder bei der Polizei wegen krimineller Handlungen landen, bzw. in die Prostitution abgleiten“. Die Jungen machen wirklich schöne Musik. Nun müssen wir schauen, wie das Essen vorbereitet und auf einzelnen Tellern verteilt wird. Reis, Salat, Bohnen und etwas Fleisch, dazu Obst.  Helio erzählt: „Die Musikgruppe war vor einiger Zeit bei einer Veranstaltung eingeladen. Anschließend gab es etwas zu essen. Unsere Kinder kannten nur einen Löffel und versuchten damit das Fleisch zu schneiden. Da haben wir uns entschlossen, Messer und Gabeln anzuschaffen und den Kindern beizubringen, damit zu essen.“  Ein kleiner Schritt in eines bessere Zukunft.  Obwohl wir nur eine kurze Zeit hier sind, ist der Abschied herzlich und freundschaftlich.  Alle Kinder begleiten uns vor das Haus und wir machen noch eine Foto- Ciao!


Auf dem Weg nach Hause noch ein Besuch in einer Bäckerei, um Brot für das Abendessen zu kaufen. Ich bin soooo müde. Seit 6.30 Uhr sind wir auf den Beinen. Hans-Jürgen klagt das erste Mal über Rückenschmerzen vom Sitzen im Auto. Nur noch essen und schlafen.

Als wir  uns zurückziehen  überlegen wir uns noch eine E-Mail nach Deutschland zu schicken.  Dank Hermanos Computer ist das schnell möglich. Gemeinsam überlegen wir einen Text, den Anna dann schreibt und abschickt:

 

Freitag 12. September

Unser letzter Tag in Crato. Zuerst fahren wir zum Projekt. Dort die übliche Morgenzeremonie. Die Kinder bilden ihren Stuhlkreis und beten. Wir müssen etwas warten und ich bemale die Wände des kleinen Spielhäuschens im Garten des Projektes.

Dann geht es an die Uni. Hier lehrt Hermano „Menschenrechte“ und hat auch ein kleines Büro. Ich finde den Fußboden so interessant und sage: „Ein tolles Patchworkmuster.“ Ich suche  verzweifelt nach einem Zettel, um die Fliesenmuster abzuzeichnen.  Hermano fällt meine  Patchworkseite im Internet ein und Anna zeigt sie den beiden Damen im Vorzimmer. Sie sind begeistert und laden mich ein eine Ausstellung in der Uni zumachen. Wenn es nur nicht so weit wäre.  Wir verabschieden uns und  versprechen, die Seite mit den neusten Arbeiten zu ergänzen und uns per E-Mail zu melden.

Hermano will uns noch ein paar schöne Dinge in Crato zeigen und der Weg führt uns in ein Traumhotel in den Bergen rund um die Stadt.  Auch hier kennt man sich und wir dürfen uns alles anschauen, von den Zimmern, den Appartements bis hin zum Pool. Auf der Terrasse  trinken wir mit Blick auf die Stadt  gelben, rosa und hellgrünen Saft, alles frisch gepresst. Hermano  erzählt uns, dass er hier seine silberne Hochzeit gefeiert hat. Einfach mal weg aus dem Alltag und etwas anderes sehen. Ich glaube auch Hermano tun solche Stunden gut, denn seine Arbeit ist schwer und manchmal sehr belastend.

Etwas höher am Berg liegt ein Schwimmbad. „Am Wochenende ist es hier im Sommer brechend voll“. Aber einen Aufenthalt hier kann sich auch nur ein etwas wohlhabender Brasilianer leisten. Dann Mittagessen und eine kurze Pause.

Nachmittags rückt der Abschied immer näher. Wir packen mal wieder unsere Koffer.  Anna und Clara springen noch ein letztes Mal in den Pool. Ehe wir abfahren, sollen wir noch etwas essen und wir fahren in einen Supermarkt in der Nähe von Hermanos Haus. Hier gibt es eine gute Gemüsesuppe mit Brot. Ein paar Plätzchen und die dringend benötigten Tempotücher werden noch gekauft. Dann geht es– da alle mitfahren möchten (Socorro, Clara und selbst die Haushälterin) mit dem Bulli zum Busbahnhof.  Alle sind traurig. Anna-Lena will noch ein Abschiedsfoto.


Nur nicht weinen. Dann drücken und küssen wir uns und es geht in den Bus. Vierzehn Stunden Fahrt liegen vor uns. Die Klimaanlage ist kaputt. Sonst ist der Bus auch nicht so besonders. Unsere längste Fahrt und dann so ein Verkehrsmittel. Wir tragen alle lange Hosen und Pullover und schwitzen. Na, dann gute Nacht.

750 Kilometer bis Salvador.

 

Samstag 13. September
Als um 2.00 Uhr nachts die beiden Leute vor mir immer noch nicht aufhören sich laut zu unterhalten, drehe ich mich um, schaue sie böse an und sage:“Könnt ihr nicht endlich aufhören zu plappern“. Dann war Ruhe.

In der Nacht steht Hans-Jürgen einige Male auf, um zu schauen, ob wir noch auf einer Straße fahren. Die Wege sind zum Teil sehr schlecht und der Bus schaukelt heftig. Besonders wenn es über die „Langsamfahrhuckel“ in den Dörfern geht.   Aber auch diese Nacht geht einmal zu Ende.  

Salvador hat einen riesigen Busbahnhof und niemand ist da, um uns in Empfang zu nehmen. Ratlos packen wir unser Gepäck und gehen durch die Schleuse. Was, wenn uns niemand hier abholt, schwirrt es mir durch den Kopf.

Doch dann - ein bekanntes Gesicht. Wir haben Ivonita schon auf dem Katholikentag kennen gelernt. Gerettet! Uns fällt ein Stein vom Herzen. Ivonita spricht ein bisschen Deutsch. Wir laden das Gepäck ein und fahren zum Projekt „Cidade da Criança“ nach Simões Filho, einer Vorstadt von Salvador. Unterwegs wieder ein bekanntes Bild: viele Favelas. Cidade da Criança ist das älteste und größte Projekt, das wir besuchen. Entstanden aus einem Kinderdorf. Die Kinder waren in Häusern mit jeweils einer Hausmutter untergebracht. Heute ist es mehr eine Ausbildungsstätte für Kinder und Jugendliche aus der Umgebung, die sowohl schulisch betreut werden als auch eine berufliche Ausbildung machen. Für uns gibt etwa  eine Stunde Ruhe. Wir packen in einem Zimmer unsere Sachen aus und gehen in dem kleinen Schwimmbecken auf dem Gelände baden. Es ist warm.  Nun beginnt ein Rundgangdurch das Projekt.  Zuerst das Schmuckstück: eine Bäckerei mit einem kleinen Lädchen. Alles ist sauber und ordentlich. Die Maschinen sind älter und stammen aus Deutschland aus einer Bäckerei, sie wurden hier aufgebaut und ein pensionierter Meister hat die ersten Lehrer und Auszubildenden eingeführt. Die Firma Bosch, die in Salvador ansässig ist, hat das Projekt großzügig unterstützt.  Hier werden Brot, Brötchen und Backwaren zum Verkauf im Laden, aber auch für auswärtige Läden, produziert. Ich habe den Eindruck, dass das Projekt aus festen wirtschaftlichen Füßen steht.

Diese Ansicht wird dann noch unterstützt als wir den Rundgang mit einem Besuch der Gärtnerei fortsetzen.  Salat in großen offenen Gewächshäusern wohin man sieht. Alles in verschiedenen Wachstumsstadien. Hier wird gepflanzt und geerntet natürlich auch für den Eigenbedarf, denn die Kinder bekommen täglich eine warme Mahlzeit.  Die Gärtnerei ist ein anerkannter Ausbildungsbetrieb. Im Teich  werden Fische gezüchtet und Schweine und Schafe auf der angrenzenden Wiese.  „Wir sollen aufpassen“ sagt Raimondo der Gärtner, der uns führt: „Kobras“ und stochert mit einem langen Ast im Laub.  Habe ich richtig gehört? –Schlangen? Ob wir eine Kinderschlange sehen wollen?  Raimondo zeigt uns eine Kiste mit einem Drahtdeckel. Angriffslustig schaut sie uns an. Hans-Jürgen fotografiert, fauchend fährt sie hoch und beißt sich im Gitter fest. Der Blitz hat sie erschreckt. Das wütende Fauchen verfolgt uns noch eine ganze Weile.  Nach dem Mittagessen in der Kantine Ruhe bis 15.00 Uhr. Wir holen das Schlafdefizit aus dem Bus nach.

Es ist Wochenende, da sind keine Kinder im Projekt. Schade! Wir werden 1 1/2 Tage Urlaub machen. Ivonita fährt mit uns nach Salvador. Da steigt Daniele zu uns ins Auto. Wir kennen sie ebenfalls schon aus Osnabrück. Sie spricht Deutsch und wird uns alles erklären.  Salvador hat drei Mill. Einwohner. Es gibt eine Ober- und eine Unterstadt. In der Oberstadt ist die Altstadt. Dort gibt es noch viele Herrschaftshäuser, die von den Portugiesen gebaut worden sind. Dazwischen völlig unpassend moderne Bauten. Wir fahren zur Kirche „Bonfim“ (Gutes Ende). Es ist eine Wallfahrtskirche. Wir staunen, der Hochaltar ist wunderschön und bis ganz oben stehen echte Blumen und Kerzen. Alles ist mit Blattgold verziert. In der Kirche sitzen Gläubige, überwiegend Frauen. Sie singen und beten.  In einem Raum daneben baumeln lauter Beine, Arme und Köpfe aus so einer Art Wachs von der Decke. Es sind die Bitten der Menschen, die auf Hilfe hoffen und auch Zeichen für eine Heilung.

Hunderte Fotos und Gebetsanhörungen  kleben an den Wänden.  Die vielen Bettler und Händler machen mir ein bisschen Angst. Sie verfolgen uns regelrecht.

Wir fahren weiter und bewundern Ivonitas Fahrkünste.  Die Straßen sind eng und mit Autos zugeparkt. Wir sehen das Meer und den Hafen. Salvador war das Zentrum für den Sklavenmarkt. Hier kamen die Schiffe aus Afrika an.  Der Anteil der schwarzen Bevölkerung ist hier sehr hoch. Das Meer glitzert in der Abendsonne und die kleinen Fischerbote und großen Frachtschiffe bieten uns ein schönes Bild. Anna-Lena fotografiert und fotografiert. Hier gibt es eine bekannte Eisdiele, ob wir Eis essen wollen. „Ja, natürlich“.  Alles ist restlos zugeparkt und strömt in Richtung Eisdiele. Sie ist riesig, davor eine Menschenschlange. Aber es geht schnell vorwärts. Eissorten in allen Farben und uns völlig unbekannten Sorten liegen vor uns. Wir bekommen kleine Holzspatel und dürfen erst einmal probieren. Jeder wählt etwas anderes und wir bekommen riesige Kugeln. Eine Kugel kostet drei Reais. Wir setzen uns auf die Hafenmauer und schlecken.

 

Es wird schon langsam dunkel, als wir durch die engen Gassen der Altstadt laufen. Die kleinen Geschäfte mit Schmuck, Bilder, Bekleidung  haben hier die ganze Nacht auf. Überall wird Musik gemacht. Hier wird gedealt, geschnüffelt, prostituiert, geraubt und gemordet. An jeder Ecke Polizei. Es ist sehr voll. So ganz wohl ist mir nicht. Wo ist Anna-Lena, wo unsere Begleitung?  Eine Band spielt und es wird getanzt. Früher wurden hier am Pelourinho die Sklaven ausgepeitscht. Kleine und große Bettler sprechen uns an und laufen hinter uns her.  Wir sollen ihnen nichts geben, sagt Daniele. Dann werden wir sie gar nicht mehr los und sie kaufen sich doch nur Drogen für das Geld. Alleine. so als Tourist, würde ich mich hier nicht her trauen. Wir beschließen, etwas zu essen. Aber nicht auf der Straße. Wir biegen in eine Seitenstraße ab. Hier ist es viel ruhiger und wir gehen in ein kleines Restaurant. Wir erinnern uns daran, dass wir in Brasilien sind und bestellen Caipirinha. Bei der Bestellung verlassen wir uns ganz auf unsere brasilianischen Freunde, wir können die Speisekarte ja nicht lesen. Es  war sehr lecker.

Es ist dunkel, als wir langsam zum Auto zurück schlendern. In den kleinen Boutiquen und den Läden mit bunter Kunst und Malerei herrscht noch Hochbetrieb.  Vorherrschende Motive sind die afrikanischen Mythen und die Stadt Salvador. In den Bar und Kneipen laute Musik.

 In der Kirche ist eine Hochzeit und im Kirchhof, mit Gittern versperrt, wird die Hochzeitsfeier stattfinden. Da Ambiente  sieht sehr teuer und extravagant aus. Der weiße Blumenschmuck, ein Traum. Das müssen sehr reiche Leute sein. Vielleicht heiratet und feiert man hier abends, weil es tagsüber zu warm ist, überlege ich.                      

Auf dem Heimweg erfahren wir, dass Simon morgen kommt. Er wird für drei Monate als freiwilliger hier im Projekt arbeiten

 

Sonntag, 14. September

Wir haben sehr gut geschlafen. Kurz nach dem Aufstehen kracht unser Bett zusammen. Mal sehen, wie wir das wieder hinkriegen. Ein kurzer Anruf bei Christian. Zu Hause ist alles OK.                                 Endlich kommt Simon, und wir erfahren, dass es in Brasilia Teimosa vier  weitere Morde gegeben hat.  Aber nur zwei der Opfer kannte Aurieta persönlich. Die Demonstration am Nationalfeiertag hatte man verboten. Ein großes Polizeiaufgebot hatte versucht sie zu verhindern. Aurieta war aber nicht zu bremsen, sie legte sich mit den Polizisten an und kroch schließlich durch ihre Beine hindurch. Simon mit der Fahne voran. Sie ist so eine starke, mutige Frau und das mit 7O Jahren.

Gemeinsam fahren wir nun zum Frühstück „hier ganz in der Nähe“. Für brasilianische Verhältnisse bedeutet das ca. 3O Min Autofahrt. Uns erwartet ein Frühstück mit  einigen bekannten und vielen unbekannten Leckereien. Alles, was wir auswählen stellen wir auf eine Waage. Hier wird nach Gramm bezahlt. Fast alles schmeckt gut.

Es geht weiter. Wir fahren zum Meer, das ist gar nicht weit von hier. Das kennen wir ja schon.  Nach 40 Min kommen wir im Touristenzentrum „Praia de Itacarezino“  an. Hierher kommen einmal im Jahr die Riesenschildkröten und legen ihre Eier ab. Die Sonne brütet sie aus und alle Babyschildkröten schlüpfen in einer Nacht. Auf dem Weg vom Strand ins Meer ist ihr Leben in großer Gefahr. Menschen und Vögel fangen sie und fast wären sie ausgestorben. Da hat man dieses Gebiet zum Naturschutzgebiet erklärt und eine Rettungsstation gebaut. Hier gibt es auch eine Art Zoo für Schildkröten. Durch den Eintrittspreis finanziert sich das Schildkrötenrettungsprojekt. Wir schauen uns alles genau an und machen natürlich viele Fotos.

Wir gehen ein Stückchen weiter am Strand entlang suchen wir einen schönen Platz zum Schwimmen. Nach einer großen Menge Sonnenmilch stürzen wir uns in den Atlantischen Ozean. Anna- Lena stellt fest: „Wir baden gerade auf der anderen Seite der Erde unterhalb des Äquators“. Ach ja, wir sind ja in Brasilien, es ist warm und einfach toll. Nach einer halben Stunde wird es höchste Zeit in den Schatten zu gehen. Hier wird Anna- Lenas Traum Kokosmilch direkt aus der Frucht zu trinken wahr. Das schmeckt aber gar nicht besonders, stellen wir enttäuscht fest. Neben uns sitzt ein Ehepaar, das Bier Wodka und andere Alkoholika trinkt und ich frage sie, warum sie nicht baden gehen. Später sagen sie, sie hätten schon einen Sonnenbrand. Das sehe ich nun auch. Sie kommen aus Schottland und waren schon in Rio. Wir unterhalten uns noch ein bisschen und ich bin selbst über meine Englischkenntnisse überrascht. Ich erzähle ihnen, dass wir Projekte in Armenvierteln besuchen. Er: „Ich will hier keine Armen sehen und habe auch noch keine getroffen“. So unterschiedlich kann man ein Land sehen.  Die Schotten kennen die Hotels, Strände und die Ausflugsziele.  Alles andere interessiert sie nicht. Schade.

Langsam schlendern wir durch die Fußgängerzone. Rechts und links kleine Geschäfte. Früher waren das die Häuser der Fischer. Den vorderen Teil haben sie jetzt an die Geschäfte vermietet. Hinten haben sie ein Stück angebaut und wohnen jetzt der Straße abgewandt. In einem Fischrestaurant essen wir am Nachmittag zu Mittag. Ganz ehrlich, so besonders schmeckt mir die brasilianische  Küche nicht. Nur das viele Obst ist einfach lecker. Während der Heimfahrt geht die Sonne unter. Der weiße Sand sieht aus wie Schnee. Tanken ist hier in Brasilien toll. Das Benzin kostet nur 0,8O Euro und man muss nicht einmal aussteigen. Ganz nebenbei bekommt man auch noch die Fenster geputzt.

Spät abends verschenken wir noch unsere Engelchen und übergeben die 45O Euro Spende aus der Kapelle. Das Geld soll für Shampoo und Duschseife verwendet werden. Viele Kinder haben hier nicht die Möglichkeit sich zu Hause zu waschen, daher duschen alle Kinder jeden Tag hier.  Für den Rest wird Ivonita Hefte und Bleistifte kaufen.

Wir stellen einen Eimer unter das Bett, denn erst später wird der Hausmeister den Schaden reparieren. Bald schlafen wir müde ein.

 

Montag. 15. September

Wir haben schlecht geschlafen. Anna-Lena hat im Schlaf geredet und gelacht. Wieder heißt es: Kofferpacken. Draußen scheint die Sonne, aber der Rasen ist noch feucht. Am Eingang warten schon die ersten Kinder. Dieses Projekt ist sehr vielfältig. Früher war es ein Kinderdorf.

Im Laufe der Jahre hat sich die Situation geändert. Es gibt hier kaum noch Kinder, die keine Eltern haben. Aber aus den Kindern wurden Jugendliche, die kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt hatten. So wurde das Projekt umstrukturiert. Es gibt hier jetzt eine Grundschule für den 1- 5 Jahrgang. Eine Gärtnerei (besonders gut wird grüner krauser Salat verkauft), eine Fischzucht, Hühner- und Schweinezucht, eine Krankenstation, eine Recyclingstation, eine Bäckerei und eine Tanz- und Musikschule.  Da kommt Simon aus der Backstube, er hat Brötchen geholt. Aufgeregt erzählt er uns, dass in der letzten Nacht vier Leute im Ort erschossen worden sind. Darum haben wir hier also diesen riesigen gefährlichen Wachhund, den hohen Zaun um das Gelände und einen Torwächter, der Tag und Nacht da ist und vom Bürgermeister bezahlt wird.

2o Brötchen kosten 3 Reis, also unglaubliche  6 Cent pro Brötchen. Hans- Jürgen überlegt, ob er sich nicht seine Rente hierher überweisen lassen soll. Wenn wir aber die Kosten für den Hund, den Zaun, den Wächter dazurechnen, können wir auch in Deutschland  wohnen bleiben. Wir wollen uns von Simon verabschieden und besuchen ihn an seinem neuen Arbeitsplatz. Die weiße Schutzmütze steht ihm gut, lästern wir. Auch müssen wir unbedingt diese schwarzen kleinen Dinger probieren und kaufen zwei Stück. Das war die Sünde für den heutigen Tag. Nur Karamell und Schokolade. Nun besuchen wir die Schulklassen. Jeden Montag wird hier immer erst die Nationalhymne gesungen. Wir machen noch ein paar  Fotos. Die Jugendlichen, die ihre Ausbildung hier machen, kommen erst am Nachmittag, aber da sitzen wir ja schon im Flugzeug.

Ich sitze gerade auf einer Bank unter einem großen Baum. Die Blätter sind gelb und wenn der Wind kommt segeln einige herunter. Ein bisschen wie zu Hause. Heute vor 14 Tagen sind wir losgefahren. Ob ich Heimweh habe? Nein, bis jetzt hatte ich dafür gar keine Zeit.

Mit dem Bäckerwagen, also wir und unser Gepäck zwischen Brot und Brötchen, werden wir zum Flughafen gebracht und ganz alleine gelassen. Hier in Brasilien lernt man kaum Fremdsprachen, also auch kein Englisch.  Kurz und gut.  Mit Hilfe von Anna-Lena sitzen wir im richtigen Flugzeug nach Rio und haben Verspätung. Außerdem haben wir Sorge, dass niemand am Flughafen auf uns wartet. Ivonita konnte nicht mit den Leuten in Rio telefonieren.

Natürlich steht da jemand in Rio mit einem großen Schild „Hans Himstedt“. Gerettet!  Auf Udo und Beda in Deutschland ist schon Verlass.

Wir fahren in das Zentrum für Menschenrechte der Diözese Nova Iguaçu im Bundesstaat Rio. Eine der gewalttätigsten Regionen der Welt. Dieses Gebiet ist von Armut, Gewalt, Arbeits- und Perspektivlosigkeit geprägt. Die einfachsten sozialen Bürgerrechte sind für den Großteil der Bevölkerung nicht gewährleistet und die Menschenrechte werden ständig verletzt. Als wir in das von der Außenwelt abgeriegelte Gelände fahren, sehen wir als erstes eine große runde Kapelle. Wir erfahren, dass hier auch der Bischof wohnt. Als wir aus dem Auto klettern, kommt auch Bischof Luciano Bergamin, er ist auch Präsident der Menschenrechtsbewegung, und nimmt jeden von uns in den Arm. Er küsst uns, lacht und lädt uns in einen seiner Gottesdienste ein. Er ist ein sehr beliebter und freundlicher Bischof. Das können wir nach dieser Begrüßung nur bestätigen. Wir beziehen unser kleines einfaches Zimmer und verabreden uns eine halbe Std später mit Hercilia und José

Es ist neblig und regnerisch. Im Reiseführer steht „in Rio scheint immer die Sonne“. Hier im Haus gibt es kein Abendbrot, daher fahren wir gemeinsam in einen Einkaufsmarkt und kaufen etwas zu essen.  Auf dem Weg sehen wir wieder viele Favelas. Der Großraum Rio hat 16. Mill. Einwohner.

Es ist ein bisschen wie Camping, als wir auf unserem Bett sitzen und Abendbrot essen. Wir sind alle drei sehr müde und nachdem wir die Betten verteilt haben - Hans  Jürgen zieht ins Nachbarzimmer- schlafen wir schnell ein.

 

Dienstag, 16. September

Die ganze Nacht hat es geregnet. Was schreibe ich, es hat geschüttet. Der Himmel ist grau und wir können nicht einmal die Berge sehen. Hans- Jürgen geht es nicht gut. Ihm ist übel und er hat Kopfweh. Auch in meinem Bauch grummelt es und ich habe schon zwei Kohletabletten eingenommen. Wir zwei Frauen gehen allein zum Frühstück und bringen Hans- Jürgen Kaffee aufs Zimmer.  Während es gestern Abend hier alles still und leise war, ist hier heute Morgen richtig was los.  Zuerst besuchen wir beide  Hercilia. Sie sitzt im Vorraum des Rechtsanwaltes, der sich um die Probleme der Armen kümmert. Wir lernen ihn kennen und gehen wieder. Hier sei noch mal gesagt, dass hier niemand Deutsch oder Englisch spricht. Aber Anna- Lena spricht ja neuerdings portugiesisch und versteht auch schon sehr viel. Den Rest denken wir uns. Wir werden durch das ganze Gebäude geführt und müssen viele Hände schütteln. Ich frage, ob wir ins Internet können  und wir schreiben unseren Lieben zu Haus

Hans- Jürgen schläft als wir nach ihm sehen.  Um 12.00 Uhr gibt es Mittagessen in der Kantine. Da kommt auch der Bischof, sieht uns und setzt sich zu uns an den Tisch.  Anna- Lena und er unterhalten sich. Er will alles genau wissen. Woher  wir kommen und was wir schon alles erlebt haben. Dann zeigt er auf meinen leeren Nachtischteller und Anna-Lena strahlt. Hochwürden geht und kommt mit 2 Tellern Nachtisch zurück. Einen für Anna-Lena. Jetzt haben wir bis 14.OO Uhr Zeit. Hans-Jürgen liegt flach. Ihm ist nur schlecht und er kann nicht aufstehen. So fahren wir beiden Powerfrauen alleine  mit ins Zentrum von Nova Iguaçu.  Zuerst besuchen wir ein Projekt der Avicres. Avicres hat Anna-Lena mit dem Geld von dem Abiturgottesdienst unterstützt. Es ist ein Kinderheim für elternlose oder verwahrloste Kinder. Alles ist sehr freundlich. Es gibt einen Spielplatz, ein buntes Spielzimmer, Kuscheltiere und ausreichend Betten, die nebeneinander stehen. Hier haben es die Kinder wirklich gut stellen wir zufrieden fest.  Es geht weiter. Wir besuchen ein Bildungshaus   mit einer sehr alten Kapelle in einem wunderschönen Garten. Hier wachsen Orchideen auf den Bäumen und  viele seltsame Früchte an den Bäumen. Für uns gibt es Kaffee und Kuchen.

Wir umarmen uns und sagen Tschau. Es geht zurück in die Stadt und in ein Parkhaus hinauf. Nach wenigen Schritten stehen wir vor dem Eingang einer Kathedrale.  Sie ist sehr schön. Im Hof gibt es eine kleine Kapelle. Hier ist der beliebte Bischof   Adriano beigesetzt.  Er gehörte zu den Bischöfen, die sich in ihrer Pastoral immer für die Armen eingesetzt haben (Theologie der Befreiung). Ein guter Freund von Beda und häufig in Deutschland zu Gast.  Er wird wie ein Heiliger verehrt.

Nun bummeln wir noch ein bisschen durch die Einkaufsstraße und entdecken in einem Schaufenster ein Kleid für Anna-Lena. Schon bald stehen wir wieder vor der Entscheidung grün oder blau. Wieder lassen wir abstimmen. Jetzt kaufen wir das Blaue.  Im Auto überlegen wir, wie wir das dem Papa beibringen.  Hans-Jürgen geht es zum Glück etwas besser und er findet seine Tochter in dem Kleid wunderschön. Nachdem wir ihm alles erzählt haben, essen wir zu Abend und gehen schlafen. Gute Nacht Rio.